Neu-Delhi 220 Treffen in 60 Städten mit mehr als 100.000 internationalen Teilnehmern: Indien hat den für das Wochenende angesetzten G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs gründlich vorbereitet. Dennoch droht dem Land auch noch am Vorabend der diplomatischen Großveranstaltung ein Scheitern seiner G20-Präsidentschaft. Erstmals in der Geschichte der Staatengruppe könnte ein Gipfeltreffen ohne gemeinsame Abschlusserklärung zu Ende gehen.
Um den historischen Rückschlag abzuwenden, versucht Indien in letzter Minute zwischen westlichen Staaten auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen Seite zu vermitteln. Indiens Chefunterhändler Amitabh Kant bemühte sich am Freitagnachmittag Optimismus zu verbreiten.
Der Entwurf einer Abschlusserklärung, über den die Delegationen der G20-Mitglieder seit Tagen streiten, sei „fast fertig“, sagte er vor Journalisten. Mit der Formulierung machte er aber auch klar, dass eine endgültige Einigung der Unterhändler immer noch aussteht.
Besonders umstritten ist die Frage, in welcher Form Russlands Angriffskrieg in der Ukraine in dem zentralen G20-Dokument zur Sprache kommt. Westliche Staaten und ihre Verbündeten wünschen sich eine klare Verurteilung. China lehnt politische Stellungnahmen der G20 ab und will ausschließlich wirtschaftliche Fragen diskutieren. Russland möchte die Folgen westlicher Sanktionen zum Thema machen.
Indiens Diplomaten schlugen zuletzt vor, in dem Dokument alle unterschiedlichen Positionen wiederzugeben – und damit auch Russland die Möglichkeit zu geben, seine Sicht auf den Ukrainekrieg darzustellen.
Zahlreiche Krisen überschatten den G20-Gipfel
Westliche Teilnehmer zeigten sich skeptisch mit Blick auf mögliche Kompromisse. „Es ist schwer vorherzusagen, ob es möglich sein wird, eine Einigung über die Erklärung zu erzielen“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel am Freitag in Neu-Delhi. „Wir verhandeln noch“, fügte er hinzu. Chinas Außenministerium teilte mit, man wolle sich in Neu-Delhi „für fruchtbare Ergebnisse“ einsetzen.
Ein Teil der Abschlusserklärung sei bereits finalisiert, berichtet der Finanzdienst Bloomberg. Darin warnten die G20-Staaten, dass „zunehmende Krisen“ das langfristige Wirtschaftswachstum gefährden. Gleichzeitig werde eine koordinierte makroökonomische Unterstützung für die Wirtschaft gefordert.
Aus deutschen Regierungskreisen hatte es zuvor geheißen, man wolle sich einen Gipfel ohne gemeinsame Erklärung nicht ausmalen – und unterstütze die indische Präsidentschaft nach Kräften dabei, eine Einigung auf ein Kommuniqué hinzubekommen. Dies sei aber nicht einfach. „Indien ist um den geopolitischen Kontext rund um seine G20-Präsidentschaft nicht zu beneiden“, kommentierte Elias Marini Schäfer, der den Gipfel für das Neu-Delhi-Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung beobachtet. Die Vielfachkrisen, die das Treffen überschatteten, würden Indiens Vermittlerrolle zu einer fast unlösbaren Aufgabe machen.
Sollte dennoch ein Durchbruch gelingen, wäre das für Indiens Premierminister Narendra Modi der bisher größte außenpolitische Erfolg. Der 72-Jährige reklamiert für Indien – der inzwischen bevölkerungsreichste Staat der Welt – mehr Mitspracherechte in der Weltpolitik und könnte mit einer G20-Einigung die wachsende geopolitische Bedeutung seines Landes unterstreichen.
Westen fordert von Indien stärkere Abgrenzung von Russland
Indien pflegt sowohl mit Russland als auch mit Europa und Amerika gute Beziehungen und hat damit gute Voraussetzungen als Mediator. Bereits nach dem G20-Gipfel im vergangenen Jahr betonte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Indien eine „essenzielle Rolle“ bei den Verhandlungen gespielt habe und dass ohne Indiens Mithilfe die „erstaunlich klaren Worte“ in der damaligen Abschlusserklärung nicht möglich gewesen wären.
Modi sieht sich aber auch mit dem Druck westlicher Staaten konfrontiert, sich stärker von Russland abzugrenzen. Dessen Invasion in die Ukraine hat die Regierung in Neu-Delhi bisher nicht verurteilt. Die britische Regierung forderte Indien vor dem Gipfelbeginn dazu auf, sich klarer zu positionieren, „indem es Russlands Angriff auf die Menschenrechte und die Demokratie selbst anprangert“.
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Dass sich Indien derart deutlich von Russland abwendet, ist zwar nicht zu erwarten. Dennoch ist zu beobachten, dass für die Regierung in Neu-Delhi andere Partner stärker an Gewicht gewinnen.
Am Freitagabend empfing Premier Modi US-Präsident Joe Biden direkt nach dessen Landung in Neu-Delhi zu einem knapp einstündigen bilateralen Vorgespräch in seiner Residenz. Man wolle die „strategische Partnerschaft auf allen Ebenen auf der Grundlage von Vertrauen und gegenseitigem Verständnis weiter ausbauen“, hieß es im Anschluss in einer gemeinsamen Mitteilung.
Indien interessiert sich besonders für eine engere Sicherheitspartnerschaft mit den USA und will mithilfe amerikanischer Rüstungsgüter unabhängiger von Russland werden, das in den vergangenen Jahren Indiens mit Abstand wichtigster Waffenlieferant war. Unmittelbar vor dem Modi-Biden-Treffen schickte Indien eine formelle Anfrage über den Kauf von 31 US-Kampfdrohnen im Wert von mehr als drei Milliarden Dollar nach Washington.
Zudem thematisierten beide Seiten in Neu-Delhi Fortschritte bei der Bereitstellung amerikanischer Technologie für Kampfjettriebwerke, die an Indiens Luftwaffe gehen sollen. Es gehe darum, „gemeinsam und zügig zu arbeiten, um diesen beispiellosen Plan zum Technologietransfer voranzutreiben“, hieß es in der Mitteilung der beiden Länder.
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