Berlin Das Abstiegsgetöse um die deutsche Wirtschaft ist laut. Verschlechterte Konjunkturzahlen, wirtschaftliche Schrumpfung in diesem Jahr und die Deutschland-Prognose des Internationalen Währungsfonds am unteren Ende der Industrieländern machen die Bundesrepublik angeblich wieder zum „kranken Mann Europas“.
Der Fokus auf die aktuell schwache Konjunktur verschleiert aber die eigentlichen Probleme der deutschen Wirtschaft. Die Zahlen sind sicherlich keine positive Nachricht. Aber es liegt im Wesen des Konjunkturzyklus, dass nach dem Abschwung auch wieder Aufschwung kommt.
Besorgniserregender ist aus Sicht von Ökonominnen und Ökonomen vielmehr, wie sich das Potenzial der deutschen Wirtschaft entwickelt. Während die Konjunkturprognosen beschreiben, wie viel eine Volkswirtschaft demnächst unter allen inneren und äußeren Einflüssen tatsächlich produzieren dürfte, beschreibt das Potenzialwachstum, wie sich die Wirtschaft im Kern entwickelt. Welches Wachstum möglich ist, wenn Maschinen und Arbeitskräfte wie geplant ausgelastet sind. Es geht also um den langfristigen Trend.
Unter der entwickelt sich nicht gerade erfreulich. Das wirtschaftliche Potenzial Deutschlands dürfte in den nächsten Jahren nur noch mit einer Rate von 0,4 Prozent wachsen. Das zeigt eine neue Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Der langjährige Durchschnitt hingegen liegt bei 1,3 Prozent.
Wichtigster Faktor für den Rückgang des wirtschaftlichen Potenzials ist die Alterung der Gesellschaft. In diesem und nächstem Jahr stagniert die Anzahl der Menschen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bei 47,1 Millionen Erwerbspersonen. Ab 2025 dürften dann mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als neue hinzukommen, etwa 200.000 pro Jahr. Dabei schon miteinberechnet ist eine Nettozuwanderung von rund 200.000 Erwerbspersonen aus dem Ausland, was laut IfW im historischen Vergleich eher hoch ist.
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Das erwartete Arbeitsvolumen sinkt auch, weil die arbeitsfähige Bevölkerung immer weniger arbeiten dürfte. „Der Wettbewerb um die Talente der Welt wird härter – umso wichtiger wird eine wachstumsstärkende Politik, die den Standort für qualifizierte Zuwanderung und Investitionen attraktiver macht“, sagt IfW-Konjunkturchef Stefan Kooths. Er schlägt vor, Betreuungsmöglichkeiten zu verbessern, Arbeitszeitmodelle zu flexibilisieren und die Lebensarbeitszeit zu verlängern.
Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sagt: „Nein, Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas.“ Er könne es aber werden, wenn nicht die richtigen Reformen umgesetzt werden.
Wirtschaftliches Potenzial Deutschlands ist bereits zurückgegangen
Zweites Problem: Das Potenzial der deutschen Wirtschaft ist gerade erst immens geschrumpft, weil Corona-Pandemie und Energiekrise nicht nur kurzfristige Krisen waren, sondern sich nachhaltig auf den Kern der Wirtschaft auswirken.
Das IfW schätzt das Niveau des Produktionspotenzials aktuell deutlich niedriger ein als im Herbst 2019, vor Beginn der Corona-Pandemie. Für das Jahr 2024 ergibt sich eine Abwärtsrevision um rund drei Prozent. Anders ausgedrückt: Unter normaler Auslastung von Maschinen und Arbeitskräften würde die deutsche Wirtschaft nächstes Jahr Waren im Wert von 100 Milliarden Euro weniger produzieren als noch vor vier Jahren geschätzt.
Laut IfW hat das mehrere Gründe. Die strukturell höheren Energiepreise haben einen wichtigen Produktionsfaktor knapper gemacht, während die Kapazität in der deutschen Autoindustrie sich wegen der Umstellung auf Elektroautos verringert haben dürfte. Die Produktionseinbußen in den energieintensiven Industrien sind wohl dauerhafter Natur.
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Letzteres legen deren Produktionszahlen nahe: Trotz sinkender Energiepreise, weniger kranken Arbeitskräften und in großen Teilen aufgelösten Lieferkettenproblemen stagniert die Produktion von Branchen wie Stahl, Chemie oder Glas seit Jahresanfang. Im Juli ist sie gar um 0,6 Prozent zurückgegangen.
Kooths resümiert: „Ohne neue Wachstumsimpulse droht Deutschland eine Phase zunehmender Verteilungskonflikte. Denn weniger Wachstum engt immer auch die Verteilungsspielräume ein, und die Zahl der Menschen steigt, die im Alter Ansprüche auf Sozialleistungen haben.“
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