Washington An kaum einem Ort fühlt sich der Ukrainekrieg so weit weg an wie in McLean, der drittreichsten Gemeinde der USA. Vor einigen Tagen besuchte Präsident Joe Biden dort den Anwalt und Multimillionär David Frederick in dessen Villa.
Biden wird an diesem Dienstag bei der UN-Generaldebatte in New York auftreten. Staats- und Regierungschefs aus aller Welt werden dort sein, auch Bundeskanzler Olaf Scholz und der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski.
Biden wird die Prinzipien einer multilateralen Weltordnung beschwören: Demokratien statt Autokratien, Diplomatie statt Krieg, Allianzen gegen Diktatorenbünde. Und wenn er am Donnerstag Selenski in Washington empfängt, wird er erneut die „unerschütterliche Unterstützung“ für das Kriegsland zusichern.
Doch dass Donald Trump oder ein anderer isolationistischer Republikaner bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ins Weiße Haus einzieht, ist eine reale Möglichkeit, die Berlin und Brüssel beunruhigt und auch einige US-Republikaner: „Eine Wiederwahl von Donald Trump wäre ein Desaster“, sagte John Negroponte, früherer UN-Botschafter und Geheimdienstdirektor unter George W. Bush, dem Handelsblatt.
Schon jetzt nutzen einige Rechtsaußenpolitiker unter den Republikanern die Ukrainehilfen, um innenpolitische Forderungen aufzustellen. Ende September soll der US-Kongress weitere 24 Milliarden US-Dollar freigeben, im Rahmen der Haushaltsgespräche.
Es ist das erste Votum über die Ukrainehilfen, seit die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus übernommen haben. Einige von ihnen wollen für ihre Zustimmung Steuersenkungen oder Kürzungen bei Sozialausgaben sehen. Beides lehnt Biden ab.
Kommt es zur Blockade im Kongress?
Bislang haben alle Ukrainepakete mit großer Mehrheit den Kongress passiert. Doch die Kosten für Amerikas Steuerzahler sind enorm, sie könnten in Zeiten von zunehmender Armut und wieder steigender Inflation schwer zu vermitteln sein – vor allem dann, wenn es tatsächlich zu einer Rezession kommt, wie einige Analysten vorhersagen.
101.198.000.000 US-Dollar flossen bislang in Waffen, Munition, Ausrüstung, Soldatentrainings, humanitäre Unterstützung und Wirtschaftstransfers. Das Office of Management and Budget (OMB) veröffentlichte die Zahl vergangene Woche nach massiver Kritik aus dem Kongress, der auf mehr Transparenz drängt.
Im Sommer hatte das Pentagon einen „Rechenfehler“ bei den Ukrainehilfen eingeräumt, sechs Milliarden US-Dollar konnten nicht mehr zugeordnet werden. Das sei „ein ziemlicher Rückschlag“ für die Überzeugungsarbeit gewesen, erklärte ein Regierungsbeamter.
Angesichts der knappen Mehrheiten können die kritischen Abgeordneten, die in Washington „Taliban 19“ genannt werden, jede Finanzspritze blockieren. Oder aber Republikaner-Chef Kevin McCarthy muss mit den Demokraten kooperieren. Das wiederum könnte ihn den Job kosten, sollten die Hardliner gegen ihn rebellieren.
Auch unter Demokraten gibt es Skeptiker. „Der Krieg in der Ukraine hat sich zu einem zermürbenden Konflikt entwickelt. Wir können und müssen helfen, diese Pattsituation zu durchbrechen“, heißt es in dem überparteilichen Schreiben aus dem Kongress an Biden.
In der Bevölkerung sinkt der Rückhalt, laut einer CNN-Umfrage lehnt eine Mehrheit der Amerikaner, 55 Prozent, neue Hilfe für die Ukraine ab, unter republikanischen Anhängern sind es 71 Prozent.
Entscheidung zu Kurzstreckenraketen steht bevor
Offiziell will die US-Regierung keinen Druck auf Kiew ausüben und Selenski, „solange es dauert“, unterstützen. Doch jüngste Signale kann man auch so interpretieren, dass sich die Geduld allmählich erschöpft und die US-Regierung deshalb Optionen erwägt, die sie lange ausgeschlossen hatte.
Nach Patriot-Luftabwehrsystemen, Panzern, Streubomben und Uranmunition könnten die USA womöglich als Nächstes Kurzstreckenraketen in die Ukraine schicken. Es geht um ATACMS, ausgesprochen „Attack-Ems“. Das „Army Tactical Missile System“ könnte die Luftabwehr entscheidend verbessern, weil es mit 350 Kilometern fast viermal so weit reicht wie die Raketen, die bereits im Einsatz sind.
Laut „Wall Street Journal“ steht eine Entscheidung des Präsidenten zu bodengestützten Raketen unmittelbar bevor. Auch diese Entscheidung könnte den weiteren Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen.
Kurzstreckenraketen wären der bisher größte strategische Schwenk der Amerikaner im Kriegsverlauf. Neben Kampfjetlieferungen wäre deren Lieferung die zweite rote Linie, die Biden nie überschreiten wollte.
Noch im vergangenen Jahr hatte er diese Option ausgeschlossen, als viel zu hoch betrachtete er das Eskalationspotenzial von Waffen mit größerer Reichweite, die tief nach Russland eindringen können. Biden warnte davor, dass die USA und ihre Verbündeten in einen direkten Konflikt mit Putin gerissen werden könnten. „Das würde die Nato zersprengen“, so drückte es Biden aus, neben Selenski stehend.
Die meisten Beobachter glauben, dass es zumindest bis zu den Präsidentschaftswahlen genügend politische Unterstützung für Bidens Ukrainekurs geben wird, auch im Kongress – aber nur dann, wenn der Präsident nicht die ultimative rote Linie überschreitet. „Solange keine amerikanischen Truppen involviert sind, nützt der Krieg Biden politisch nicht, aber er schadet ihm auch nicht“, erklärt Anja Manuel, Chefin der Aspen Strategy Group.
Der frühere UN-Botschafter Negroponte betont, Biden sei „sehr gut darin, Amerika aus direkten Kampfhandlungen herauszuhalten“. Es mache „einen großen Unterschied, ob amerikanische Truppen sterben oder nicht. Vor allem, wenn sich der Krieg noch länger hinziehen sollte.“
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Und doch macht der Krieg Biden angreifbar, die Republikaner sprechen längt vom „zweiten Afghanistan“, allen voran Donald Trump, der derzeit wahrscheinlichste Herausforderer Bidens.
Am Freitag trat Trump vor den „Concerned Women for America“ auf, einer der größten konservativen Interessengruppen der USA. Kulturkämpfe um Abtreibungen, Schulbücher und Transgenderpersonen gehören zu ihren Hauptanliegen, doch selbst vor dieser Klientel rückt Trump den Ukrainekrieg in den Mittelpunkt.
„Tu es nicht, Wladimir, tu es nicht!“, habe er zu seiner Zeit im Weißen Haus zu Putin gesagt und ihm mit „Konsequenzen“ gedroht – die, wie er andeutet, US-Militärschläge einschließen. Nach der Wahl werde er den Krieg „in 24 Stunden beenden“, ruft er unter Applaus. „Ich werde euer Friedensstifter sein, ich werde den Dritten Weltkrieg verhindern.“
Der Ukrainekrieg wird in den USA zum Vehikel für Ängste vor einer zerfaserten Weltordnung, in der Amerika immer nur draufzahlt – das ist zumindest das Narrativ von Trump und anderen republikanischen Kandidaten. Die Umfragewerte von Vivek Ramaswamy, der die Ukrainehilfen einfrieren will, klettern, während Multilateralisten wie Mike Pence oder Nikki Haley an der Basis ausgebuht werden, sobald sie die Ukraine erwähnen.
Für Biden ist der Kampf um die Rettung der Ukraine nicht nur politisch, sondern auch persönlich bedeutsam. Nach den Maidan-Protesten flog er als Vizepräsident von Barack Obama nach Kiew und war schon in die Politik des Landes involviert, als Selenski noch Fernsehserien drehte. Bidens Außenminister Antony Blinken hat ukrainisch-jüdische Wurzeln.
Laut dem Biden-Biografen Chris Whipple war es vor allem der Ukrainekrieg, der den Präsidenten trotz seines fortgeschrittenen Alters davon überzeugte, zur Wiederwahl anzutreten.
Biden, der Transatlantiker, sah sich „als einzigartig qualifiziert, die Ukraine zu verteidigen, Putin zu trotzen und die Nato-Partner um sich zu scharen“, so Whipple. Die zweite Chance, die Biden im Weißen Haus bekommen will, könnte notwendig sein, um sein Ziel zu Ende zu bringen.
Mehr: Die schleppende Offensive der Ukraine beunruhigt den Westen
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