Brüssel, Rom Nach dem Rausch des Wahlerfolgs ist das Rendezvous mit der Realität des Regierens für viele Politiker eine unangenehme Erfahrung. Der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht das Missvergnügen dieser Tage immer öfter ins Gesicht geschrieben.
Im Wahlkampf vor einem Jahr hatte die Rechtspopulistin noch versprochen, die Flüchtlingszahlen einzudämmen. Eine „Seeblockade“ stellte sie in Aussicht, sollte sie ins Amt der Ministerpräsidentin gewählt werden.
Eine einfache Parole, die sich jetzt rächt: Denn auch als italienische Regierungschefin hat Meloni kaum Einfluss darauf, wie viele Menschen sich in Nordafrika auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer machen.
Die Zahl der Geflüchteten, die in Italien ankommen, ist stark angestiegen: Waren es in 2022 rund 105.000 Menschen, sind es nach Zählung des italienischen Innenministeriums bis Mitte September dieses Jahres schon knapp 124.000.
„Man muss die Abfahrten der Schiffe blockieren“, betonte Meloni am Sonntag auf Lampedusa, wo sie gemeinsam mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein Flüchtlingslager und den Hafen besuchte – ein Blitzprogramm von gerade mal anderthalb Stunden. Meloni forderte eine „effiziente europäische Schiffsmission“, um die Krise zu bewältigen und den afrikanischen Staaten beim Blockieren der illegalen Migrationsflüsse zu helfen. Von der Leyen versprach, die Grenzschutzbehörde Frontex zu stärken. Doch das hat man in den vergangenen Jahren schon häufig gehört.
Meloni steht unter Druck
Meloni steht unter Druck. Sie braucht dringend Erfolge bei der rechten Basis, die sie im Herbst vergangenen Jahres in den Palazzo Chigi gewählt hat. Als Ministerpräsidentin gab sich die 46-Jährige bislang auffällig proeuropäisch, proukrainisch, proamerikanisch.
Die Sorge, unter ihrer Führung würde Italien zum Partner non grata werden, hat sich nicht bewahrheitet. Meloni hat sich im Kreis der G7, G20 und der EU schnell etabliert. Außen- und finanzpolitisch knüpfte sie an das Erbe ihres Vorgängers Mario Draghi an. Teure Wahlversprechen ihrer Koalitionspartner Lega und Forza Italia, etwa eine Flat Tax aufs Einkommen oder eine Rentenerhöhung, kassierte sie schnell wieder ein.
Derzeit arbeitet Melonis Regierung an ihrem ersten Haushalt für das kommende Jahr. Die Spielräume sind eng, bislang soll ein Fehlbetrag von 30 Milliarden Euro in dem Entwurf klaffen. Die Wirtschaft des Landes ist im zweiten Quartal dieses Jahres überraschend um 0,3 Prozent geschrumpft, soll aber trotzdem im Gesamtjahr um ein Prozent wachsen. Für 2024 wird ein Plus von 1,1 Prozent prognostiziert.
Durch den moderaten Kurs und die unsichere wirtschaftliche Lage wächst der Druck auf Meloni im Inland, auch im eigenen Kabinett: Matteo Salvini, Chef der rechten Lega und Infrastrukturminister, machte am Wochenende gemeinsam Europa-Wahlkampf mit Frankreichs rechter EU-Gegnerin Marine Le Pen. Man müsse „jedes Mittel“ gegen die „Invasion“ nutzen, erklärte er bei dem Treffen in Pontida im Norden Italiens.
Einen Tag zuvor trat Le Pen in ihrer Heimat auf, zeigte sich „erstaunt über diejenigen, die nach der Europäischen Union rufen und gleichzeitig behaupten, Patrioten zu sein“ – ein deutlicher Angriff auf Melonis Lampedusa-Besuch, ohne die Regierungschefin und ihre Partei „Fratelli d’Italia“ beim Namen zu nennen.
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Von der Opposition kann Meloni keine Hilfe erwarten. Die Regierung tue so, als könne man das Meer versiegeln, kritisiert Oppositionschefin Elly Schlein am Montag in der „La Repubblica“. „Sie macht sich erpressbar von nicht-demokratischen Regimen“, verletze damit Menschenrechte – aber stoppe nicht die Migrationsflüsse.
Meloni und von der Leyen
Dafür scheint EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bereit zu sein, in der Migrationspolitik ein Tandem mit Meloni zu bilden. Schon im Juni war das zu beobachten, als von der Leyen, Meloni und der niederländische Premier Mark Rutte einen Migrationsdeal mit Tunesien schlossen.
Bei ihrem Besuch auf Lampedusa hob die CDU-Politikerin die hervorragende Zusammenarbeit mit Italien hervor und fügte auf Italienisch hinzu, dass „Italien auf die Europäische Union zählen kann“.
Es war nicht zu erwarten, dass Leyen und Meloni einen Draht zueinander finden. Kurz vor Melonis Wahlsieg hatte von der Leyen noch auf Ungarn und Polen hingewiesen und betont, die EU habe Instrumente, um mit schwierigen Partnern umzugehen.
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Ein Jahr ist das her, doch politisch vergessen. In der Kommission ist die Erleichterung darüber groß, dass Meloni ihr Land auf einer proeuropäischen Linie hält. Zugleich lotet von der Leyen ihre Chancen für eine zweite Amtszeit aus. Meloni und ihre Fratelli d’Italia könnten noch nützlich werden – wenn sie die Migrationskrise überstehen.
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