London Großbritannien steht vor einer erneuten Streikwelle im öffentlichen Dienst. Nachdem die rund 500.000 Mitglieder des Royal College of Nurses (RCN) am Freitag das Lohnangebot der Regierung mehrheitlich abgelehnt haben, droht der seit Monaten anhaltende Arbeitskampf nicht nur im staatlichen Gesundheitssystem NHS wieder aufzuflammen.
Die jetzt gescheiterte Vereinbarung bei den Krankenschwestern sollte der Pilotabschluss auch für andere Berufsgruppen im öffentlichen Dienst sein. Nun wollen neben den Krankenschwestern auch Juniorärzte und Lehrer wieder in den Ausstand treten.
Das RCN hatte ursprünglich eine Lohnerhöhung von 19 Prozent für die Krankenschwestern gefordert, vor allem, um die hartnäckig hohe Inflation in Großbritannien von rund zehn Prozent seit August 2022 auszugleichen. Nach harten Verhandlungen hatte sich die Gewerkschaft Anfang des Jahres jedoch auf eine Lohnerhöhung von fünf Prozent für 2023/2024 plus einer Einmalzahlung von mindestens 1655 Pfund (etwa 1887 Euro) mit der Regierung geeinigt.
Diesen Deal, der auf den ersten Blick nicht weit entfernt ist von dem Vorschlag der Schlichtungskommission für den öffentlichen Dienst in Deutschland, lehnten jedoch 54 Prozent der RCN-Mitglieder als unzureichend ab. Der wichtigste Unterschied zur Lage im Königreich ist jedoch, dass die deutschen Schlichter mit 24 Monaten eine doppelt so lange Laufzeit vorschlagen.
Am Wochenende drohte die RCN-Vorsitzende Pat Cullen damit, die Streikaktionen notfalls bis Weihnachten fortzusetzen. Zunächst wollen die Krankenschwestern in England ihre Arbeit für zwei Tage vom 30. April bis zum 2. Mai niederlegen. Erstmals sollen dabei auch die Mitarbeiter in der Notaufnahme, den Intensivstationen und der Krebsbehandlung am Arbeitskampf teilnehmen, was die stark angespannte Versorgungslage im NHS weiter verschärfen würde.
Chronischer Personalmangel seit dem Brexit
Das Gesundheitssystem leidet nämlich nicht nur unter einem chronischen Personalmangel seit dem Brexit. Bereits jetzt fehlen mehr als 150.000 Mediziner und Krankenschwestern. Die Lücke könnte sich nach internen Schätzungen des NHS in England bis 2036 auf 570.000 Stellen erhöhen, falls der negative Trend anhalten sollte.
In der vergangenen Woche legten auch die Juniorärzte der British Medical Association (BMA) für vier Tage ihre Arbeit nieder, was in den Krankenhäusern zu erheblichen Engpässen führte. Die rund 47.000 jungen Ärzte wollen ihren Arbeitskampf fortsetzen und fordern Lohnerhöhungen von 35 Prozent. Die enorme Steigerung begründet die BMA damit, dass die Mediziner in den vergangenen 15 Jahren reale Lohneinbußen von etwa 26 Prozent hätten hinnehmen müssen.
Finanzminister Jeremy Hunt hat jedoch die Forderungen mit dem Hinweis abgelehnt, derart hohe Lohnsteigerungen würden die Inflation noch weiter anheizen. „Das Schlimmste, was wir den jungen Ärzten, Krankenschwestern, Lokführern und Lehrern antun können, ist, die Wirtschaft so zu führen, dass sie in einem Jahr immer noch zehn Prozent höhere Lebenshaltungskosten befürchten müssen“, sagte der Tory-Politiker. Premierminister Rishi Sunak hatte Anfang des Jahres versprochen, die Rate der Preissteigerungen zu halbieren. Ökonomen bezweifeln jedoch, dass hohe Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst die Inflation nennenswert nach oben treiben.
Die konservative Regierung setzt offenbar darauf, dass sie die Streikwelle aussitzen und die Gewerkschaften spalten kann. Anders als das RCN hatten nämlich die Mitglieder der kleineren Gewerkschaft Unison das Lohnangebot für die Krankenschwestern angenommen. In Schottland haben sich Gewerkschaften und Regionalregierung bereits auf Lohnerhöhungen von rund sieben Prozent geeinigt. Auch die Eisenbahner, die im Juni 2022 die landesweite Arbeitskampfwelle ausgelöst hatten, haben weitere Streiks abgesagt und sind an den Verhandlungstisch zurückgekehrt.
Obwohl die anhaltenden Massenstreiks für das britische Gesundheitssystem eine enorme Belastungsprobe sind, unterstützen nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov immer noch zwischen 59 und 67 Prozent der Briten den Arbeitskampf der Beschäftigten. Nach Angaben des NHS mussten wegen der Ausfälle bereits mehr als 330.000 Behandlungen verschoben werden.
Lebenserwartung steigt im Königreich langsamer
Mehr als 7,2 Millionen Briten warten auf eine Behandlung, rund drei Millionen von ihnen stehen bereits seit mehr als 18 Wochen in der Warteschlange. Die NHS-Krise ist nach Meinung von Fachleuten auch eine Ursache dafür, dass die Lebenserwartung in Großbritannien nach einer Studie im „Journal of the Royal Society of Medicine“ im vergangenen Jahrzehnt langsamer gestiegen ist als in anderen Ländern.
Auch die Wirtschaft leidet zunehmend unter dem ungelösten Arbeitskonflikt. So stieg die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde ONS im vergangenen Jahre auf fast 2,5 Millionen – das ist der höchste Wert seit 1989. Ökonomen machen die anhaltenden Arbeitskämpfe zudem dafür mitverantwortlich, dass das Wirtschaftswachstum in Großbritannien auf der Stelle tritt und die Briten als letzte der großen Industrienationen erst kürzlich das Wohlstandsniveau aus der Zeit vor der Pandemie wieder erreicht haben.
Wichtiger als die kurzzeitigen Wachstumseinbußen sind jedoch die langfristigen Folgen einer chronischen Krise des staatlichen Gesundheitssystems. Anders als in Frankreich und Deutschland haben sich auf der Insel insbesondere ältere Arbeitnehmer nach der Pandemie vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Ein Grund dafür ist die angeschlagene Gesundheit vieler Beschäftigter. Andrew Bailey, Chef der Bank of England, warnte kürzlich davor, dass ein krankheitsbedingter Rückgang der Erwerbstätigkeit negative Auswirkungen auf Wachstum, Inflation und Zinsniveau haben werde.
<< Den vollständigen Artikel: Großbritannien: Neue Streiks bremsen die wirtschaftliche Erholung >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.