May 3, 2023
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Großbritannien: Die Kommunalwahlen zeigen, ob Labour den Wechsel schafft

Written by Torsten Riecke


Swindon Wenn die Briten am Donnerstag einen Großteil ihrer Kommunalparlamente und einige Bürgermeister wählen, werden sich viele Blicke in den Parteizentralen der regierenden Tories und der Labour-Opposition nach Swindon richten. Die englische Industriestadt, eine Autostunde westlich von London gelegen, ist eine Art Wegweiser für die britische Politik. Wer hier gewinnt, hat häufig auch im Rest des Landes die Oberhand.

Die Kommunalwahlen sind eine Generalprobe für die vermutlich im kommenden Jahr stattfindenden Parlamentswahlen und der erste Wählertest für Premierminister Rishi Sunak nach sechs Monaten im Amt.

Es war deshalb auch kein Zufall, dass Labour-Chef Keir Starmer in Swindon Ende März den Wahlkampf seiner Partei mit dem Versprechen einleitete, die kommunalen Steuern einzufrieren und die Einnahmeausfälle mit einer Sondersteuer auf Krisengewinne der großen Energiekonzerne auszugleichen. „Im ganzen Land, überall, wo ich hinkomme, hier in Swindon, wollen die Gemeinden einen Wandel!“, rief der Oppositionsführer seinen Anhängern zu.

Gary, der seinen Nachnamen nicht nennen will, hat er damit überzeugt. Der etwa 50-Jährige mit dem leicht angegrauten Haar lebt schon „ewig“ in Swindon und hat die Nase voll von den Konservativen – auf lokaler und nationaler Ebene. Er hat per Briefwahl schon sein Kreuz bei Labour gemacht. Die Tories seien ausgelaugt und hätten ihre wirtschaftliche Kompetenz verspielt. „Swindon war einmal eine wohlhabende Stadt – das ist vorbei“, sagt Gary und erinnert an das Auf und Ab der Stadtgeschichte.

Wer in Swindon gewinnt, hat auch im Rest des Landes gute Chancen

Im 19. Jahrhundert war Swindon ein Zentrum der englischen Eisenbahnindustrie, in den 1980er-Jahren wurde die Stadt zum wichtigsten Standort des japanischen Autobauers Honda in Europa. 2021 war es mit dem industriellen Boom jedoch vorbei: Die Japaner machten ihr Werk dicht und 3500 Mitarbeiter standen auf der Straße.

Kurz danach eröffnete Amazon in der Nähe ein riesiges Logistikzentrum und stellte viele ehemalige Honda-Arbeiter wieder ein – allerdings zu deutlich niedrigeren Löhnen. Swindon ist mit der Zeit gegangen, dabei aber nicht unbedingt reicher geworden.

Innenstadt von Swindon

Die britische Industriestaat war bereits von mehreren Strukturwandeln betroffen.

(Foto: The Image Bank/Getty Images)

Heute wirken Stadt und Bewohner erschöpft und verunsichert angesichts der stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Gary sitzt auf einer Holzbank in der trostlosen Fußgängerzone zwischen dem geschlossenen Kaufhaus Debenhams, das während der Pandemie aufgeben musste, und dem „Swindon HUB“, einem kommunalen Zentrum mitten in der Einkaufsstraße, wo sich die von hohen Heizkosten gebeutelten Einwohner an kalten Wintertagen aufwärmen konnten. Jetzt bekommen Bedürftige für einen warmen Kaffee hierhin. „Überall gibt es Baustellen, aber nichts wird fertig“, sagt der begeisterte Fahrradfahrer. Der Stadt fehle das Geld für eine moderne Infrastruktur.

Swindon wird seit 13 Jahren von den Konservativen regiert. „Sollten die Tories hier ihre Mehrheit halten können, wäre das ein gutes Signal auch für die konservative Regierung in London“, sagt Tony Travers, Politikwissenschaftler an der London School of Economics (LSE). Die Stadt liege zwar eher im Süden Englands, habe aber wichtige Elemente der sogenannten „Red Wall“-Regionen im Norden.

Gemeint sind damit die ehemaligen Labour-Hochburgen zwischen Liverpool und Middlesbrough, die Boris Johnson 2019 für die Tories eroberte und die Oppositionsführer Starmer unbedingt zurückgewinnen muss, will er 2024 Premierminister werden. Hinzu kommt, dass weiter südlich in den traditionell konservativen Hochburgen die Liberaldemokraten den Tories im Nacken sitzen.

Insgesamt kämpfen die Parteien um mehr als 8000 Sitze in 230 Kommunen in England. In Wales und Schottland finden keine Kommunalwahlen statt, und in Nordirland wird erst am 18. Mai gewählt.

Fast die Hälfte der zur Wahl stehenden Mandate ist aktuell in konservativer Hand, weshalb die Tories bereits tiefstapeln und Generalsekretär Greg Hands schon mal den Verlust „von bis zu 1000 Sitzen“ einkalkuliert hat. Aber auch die Labour-Partei, die in nationalen Umfragen 15 Punkte vor den Tories liegt, versucht die Erwartungen auf einen Durchmarsch zu dämpfen. „Die Konservativen werden deutliche Zugewinne verzeichnen“, gibt sich Starmer bewusst bescheiden. Vielleicht auch, weil sein Kontrahent Sunak ihn im persönlichen Vergleich in den Umfragen fast eingeholt hat.

Tories versuchen, mit Kulturkampf zu punkten

Das reicht für die Konservativen jedoch nicht: „Fakt ist, dass die regierenden Tories angesichts der schlechten Wirtschaftslage und nach zahlreichen Skandalen sowie dem Politchaos der nach nur 45 Tagen zurückgetretenen Premierministerin Liz Truss extrem unpopulär sind“, sagt Sarah Hobolt, Wahlforscherin an der LSE. Etwa zwei Drittel der Briten seien nach Umfragen unzufrieden mit der konservativen Regierung.

Um ihre enttäuschten Stammwähler bei der Stange zu halten und im nächsten Jahr doch noch eine Chance auf eine Wiederwahl zu haben, setzen die Tories deshalb verstärkt auf kulturelle Streitthemen wie den Umgang mit illegalen Einwanderern, die vor allem mit Booten über den Kanal nach Großbritannien kommen.

Innenministerin Suella Braverman hat jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Inhaftierung und umgehende Abschiebung von illegalen Einwanderern nach Ruanda vorsieht. Das Asylrecht würde praktisch ausgehebelt. Braverman will sich zur Not auch über Einsprüche des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinwegsetzen, denn ihr Gesetz dürfte dort auf erheblichen rechtlichen Widerstand stoßen. „Die Tories versuchen, mit dem Thema Einwanderung jene Identitätskampagne wiederzubeleben, die nach den enttäuschten Brexit-Hoffnungen an Zugkraft verloren hatte“, sagt Politologin Hobolt.

Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak am Regierungssitz 10 Downing Street

Der konservative britische Premierminister steht bei den Kommunalwahlen vor seinem ersten Bewährungstest.

(Foto: AP)

Das Thema Immigration steht für die meisten Briten jedoch erst an dritter Stelle auf der Liste ihrer politischen Prioritäten. Für 60 Prozent geht es bei den Wahlen vor allem um die wirtschaftliche Lage, mehr als 40 Prozent sorgen sich besonders um das von Streiks, Geld- und Fachkräftemangel gebeutelte Gesundheitssystem NHS. Das ist auch der Grund, warum Labour die Tories an der Wirtschaftsfront attackiert und seit Wochen mit einer Charmeoffensive versucht, Topmanagern und ausländischen Investoren die Ängste vor einem Wahlsieg der Arbeiterpartei zu nehmen.

Das Werben hat offenbar Erfolg: Im Oktober 2022 hielt eine Mehrheit der Briten erstmals die Labour-Partei für ökonomisch kompetenter als die Tories. Der Brexit spielt übrigens nur noch für 18 Prozent der Briten eine Hauptrolle in der britischen Politik. Labour scheut sich, das Reizthema neu aufzurollen. Schließlich stimmten 2016 auch viele Labour-Anhänger für den EU-Austritt.

Erstmals müssen die Briten einen Fotoausweis im Wahllokal zeigen

Entscheidend ist, ob und wie sich die Ergebnisse der Kommunalwahlen auf den nationalen Polittrend umrechnen lassen. Britische Meinungsforscher haben dafür das sogenannte „National Equivalent Vote“ entwickelt. Dabei gelte die Faustregel, dass eine Partei einen umgerechneten Stimmenanteil von mindestens 40 Prozent erreichen müsse, wenn sie auch auf nationaler Ebene erfolgreich sein wolle, sagt LSE-Forscher Travers.

Wenn die professionellen Auguren mit ihren Prognosen recht behalten, hätte Labour gute Karten: Mit einem umgerechneten Stimmenanteil zwischen 39 und 41 Prozent liegt die Opposition in den Prognosen nicht nur deutlich vor den Tories mit 28 bis 30 Prozent, sondern der Regierungssitz 10 Downing Street wäre auch in Reichweite.

Mehr: Britische Regierung verfehlt ihr Brexit-Ziel



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