Anhand der Mikrozensus-Daten, die wegen des Zuzugs ukrainischer Geflüchteter allerdings noch mit Vorsicht zu bewerten sind, erwartet Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ein weiteres Plus von rund 100.000 Personen. Die Quote der Ungelernten in der betreffenden Altersgruppe würde damit um 0,7 Prozentpunkte auf 17,7 Prozent steigen.
Wie erklärt sich der Anstieg? Und wie groß ist die Gefahr, dass viele der Ungelernten über kurz oder lang im Bürgergeld landen werden?
„Die gestiegene Zahl der Ungelernten hat auch mit Corona zu tun“, erläutert Weber, der beim IAB den Forschungsbereich Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen leitet. Denn während der Pandemie sind die Ausbildungszahlen eingebrochen. Jugendliche, die deshalb keine Lehrstelle gefunden haben, zählen jetzt mit zu den Ungelernten.
Sind Menschen ohne Berufsausbildung chancenlos auf dem Arbeitsmarkt?
Momentan keineswegs, sagt Weber: „Der Arbeitsmarkt für Ungelernte boomt gerade.“ So lag die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in Helfer-Jobs im September 2022 um 3,4 Prozent über dem Vorjahreswert. Auf Fachkräfteniveau ist die Zahl der Beschäftigten im gleichen Zeitraum um 0,6 Prozent gesunken, was aber auch mit den Schwierigkeiten der Unternehmen zu tun hat, qualifiziertes Personal zu finden.
>> Lesen Sie hier: Flughäfen verzichten auf türkische Hilfskräfte: „Qualifikation vielfach unter Minimal-Anforderungen“
Nach der jüngsten nach Qualifikationsniveau aufgeschlüsselten IAB-Stellenerhebung entfielen im Schlussquartal 2021 rund 24 Prozent aller offenen Stellen auf Helferjobs. Für Ungelernte gebe es derzeit viele Jobs in der Gastronomie, an Flughäfen, bei Lieferdiensten oder in den Supermärkten, sagt Weber. „Und technische Neuerungen schaffen auch neue Helferjobs, denken Sie etwa an das Einsammeln von Leihrollern.“
Zeigt sich der boomende Arbeitsmarkt für Ungelernte auch bei den Verdiensten?
Durchaus. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes sind die tariflichen Stundenverdienste für Ungelernte vom zweiten Quartal 2020 bis zum Schlussquartal 2022 um mehr als zehn Prozent gestiegen, während Fachkräfte nur auf rund vier Prozent kommen. Das kräftige Plus hat auch damit zu tun, dass die Tarifparteien die starke Anhebung des Mindestlohns bei den unteren tariflichen Entgeltgruppen vor- oder nachempfunden haben.
>> Lesen Sie hier: Beschäftigten drohen 2024 Reallohnverluste – trotz hoher Tarifabschlüsse
Weber sieht hier durchaus eine Gefahr: „Angesichts der Lohnentwicklung bei Ungelernten könnten sich mehr Jugendliche die Frage stellen, ob sich eine Ausbildung lohnt.“ Arbeitsagenturen und Unternehmen müssten also noch intensiver werben, beraten, überzeugen und gute Ausbildungsbedingungen bieten.
Ist der starke Anstieg der Zahl der Ungelernten also gar nicht bedenklich?
Das kann man so nicht sagen. Denn auch wenn der Arbeitsmarkt für Ungelernte momentan boomt, so haben sie doch ein deutlich höheres Risiko, arbeitslos zu werden, als qualifizierte Beschäftigte. Im Durchschnitt des vergangenen Jahres lag die allgemeine Arbeitslosenquote bei 5,3 Prozent und die von Ungelernten bei 19,8 Prozent.
Auch wenn die Beschäftigungssituation momentan gut sei, liege die Arbeitslosenquote von Menschen ohne Berufsausbildung noch immer über Vor-Corona-Niveau, sagt Weber. Für die einzelnen Personen werde der Wiedereinstieg schwer, wenn die Arbeitslosigkeit zu lange andauert, warnt er.
Vergangene Woche hatte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles, bei der Präsentation der Arbeitsmarktdaten vor einer sich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit gewarnt. Im April bemühten sich 885.000 der registrierten Arbeitslosen schon seit mindestens einem Jahr erfolglos um einen Job. Laut Nahles verfügen rund zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung.
Was kann getan werden?
IAB-Forscher Weber betont: „Fast 20 Prozent Arbeitslose im Segment der Ungelernten sind ein großes Potenzial, das wir heben müssen, weil wir die Jobs sonst gar nicht alle besetzen können.“ Die von der Ampelkoalition geplante Ausbildungsgarantie sei zwar ein richtiger Gedanke. „Aber wir sollten auch mehr an modulare Qualifizierung denken“, sagt der Wissenschaftler.
>> Lesen Sie hier: Der Wirtschaft entgehen 100 Milliarden Euro, weil sie zwei Millionen Stellen nicht besetzen kann
Nicht jeder der Arbeitslosen werde eine komplette Ausbildung schaffen. Dabei könne jemand aber beispielsweise durchaus in die Lage versetzt werden, Wärmepumpen zu montieren, ohne gleich die ganze Ausbildung zum Sanitär- und Klimatechniker durchlaufen zu müssen.
Mehr: Reiche Eltern, gute Chancen – das deutsche Bildungsdilemma in Zahlen
<< Den vollständigen Artikel: Beschäftigung: Wie die Chancen für Ungelernte auf dem Jobmarkt stehen >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.