Istanbul Mehr als 60 Millionen Türkinnen und Türken wählen heute ihr Parlament sowie den künftigen Präsidenten des Landes. Der Herausforderer von Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan, Kemal Kilicdaroglu von der links-gerichteten CHP, wird dabei von fünf konservativen Parteien unterstützt. Das Bündnis gilt als höchst unterschiedlich und fragil – und könnte den 74-jährigen Politiker gerade deswegen ins Amt hieven.
In der „Nationalen Allianz“ sind sechs Parteien versammelt, das Bündnis existiert seit 2017. Damals hatten sich mehrere Parteien zusammengetan, um gegen ein geplantes Verfassungsreferendum zu werben, mit dem Staatschef Erdogan seine Macht ausbauen konnte. Das Referendum verlief – aus Erdogans Sicht – erfolgreich. Die Allianz gegen ihn blieb bestehen, um bei den nächsten Wahlen ein gemeinsames Vorgehen zu koordinieren. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2018 scheiterte ein gemeinsamer Kandidat der Gruppe erneut gegen Erdogan.
Das Bündnis blieb dennoch bestehen und nahm sogar neue Parteien auf. Angeführt wird das Bündnis von der republikanischen Volkspartei CHP. Die Partei wurde von Staatsgründer Atatürk gegründet und ist damit die älteste Partei des Landes. Als Kemal Kilicdaroglu im Jahr 2010 Parteichef wurde, initiierte er einen Linksruck innerhalb der damals als äußerst nationalistisch geltenden Partei.
Das Logo der Partei besteht aus sechs Pfeilen, die Atatürks Grundprinzipien entsprechen: Republikanismus, Laizismus, Populismus, Revolutionismus, Nationalismus und Etatismus, womit die partielle staatliche Wirtschaftslenkung gemeint ist. Als größte Oppositionspartei bildet die CHP seit den Wahlen 2002 die wichtigste Oppositionsfraktion in der türkischen Nationalversammlung und verfügt seit der Parlamentswahl im Juni 2018 über 135 der 600 Sitze. Sie ist die einzige Mitte-Links-Partei im Bündnis.
Die zweitgrößte Partei im Bündnis, die nationalistische Iyi-Partei, wird von der ehemaligen Innenministerin Meral Aksener angeführt. Nachdem sie 2016 im Zuge eines Richtungsstreits aus der rechtsnationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ausgeschlossen wurde, gründete sie 2017 ihre eigene Partei. Bei den Wahlen 2018 erlangte ihre Partei auf Anhieb 36 Sitze.
Am 3. März trat Aksener aus dem Bündnis aus, weil sie gegen die Nominierung von Kemal Kilicdaroglu als Präsidentschaftskandidat der Allianz war. Sie sprach öffentlich davon, hintergangen worden zu sein, und wünschte sich einen der oppositionellen Bürgermeister Istanbuls oder Ankaras als Kandidaten. Inzwischen sind die beiden, Ekrem Imamoglu aus Istanbul und Mansur Yavas in Ankara, Kandidaten für das Amt des stellvertretenden Präsidenten, ebenso wie Aksener und die vier Parteichefs der anderen Mitglieder des Bündnisses – für ein Amt also, dessen Befugnisse die Allianz eigentlich erheblich beschneiden möchte.
Auch die drittgrößte Partei, die Demokratische Partei (DP), beschreibt sich als konservativ. Nur ihr Parteivorsitzender ist im Parlament vertreten, und das auch nur, weil die Iyi-Partei ihm nach den Wahlen 2018 einen Sitz geschenkt hatte. Die Partei erhält in Umfragen selten mehr als ein Prozent, hauptsächlich von der Landbevölkerung. Ihr Parteilogo, ein weißes Pferd, leitet sich von einer Verballhornung des Parteinamens ab. Viele Türkinnen und Türken konnten früher das Wort „Demokrat“ nicht aussprechen und sagten stattdessen „Demir Kirat“, was auf Türkisch „eisernes weißes Pferd“ bedeutet.
Deutscher Verfassungsschutz mit engagiert
Die „Partei der Glückseligkeit“ (Saadet) ist eine islamistische Partei und war Teil der Milli-Görüs-Bewegung, deren deutscher Arm unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Die Politik der USA bezeichnete die Partei in einem früheren Parteiprogramm als „blutige Besatzungspolitik“ und „rassistischen Imperialismus“. Einen EU-Beitritt lehnte die Partei damals ab, wie sie jetzt dazu steht, ist nicht bekannt. In einem Artikel ihres Pressesprachrohrs aus dem Jahr 2003, der Milli Gazete, wurde der Holocaust geleugnet. Über eine Wahlliste der CHP erhielt die Saadet-Partei zwei Sitze im Parlament.
Die Partei für Demokratie und Fortschritt ist vom ehemaligen Wirtschaftsminister der Erdogan-Partei, Ali Babacan, im März 2020 gegründet worden. Zu den weiteren Gründungsmitgliedern zählen zwei weitere ehemalige AKP-Minister sowie vier ehemalige Abgeordnete von Erdogans AKP.
Babacan schloss Gymnasium und ein Studium als Jahrgangsbester ab, arbeitete anschließend als Unternehmensberater in Chicago. Er gehörte zu den Mitbegründern der Regierungspartei AKP. Als Erdogan ihn zum ersten Mal ins Kabinett holte, war Babacan erst 35 Jahre alt. Von 2009 bis 2015 war er für die AKP Wirtschaftsminister, in dieser Zeit verlor die Lira 55 Prozent an Wert. Er bezeichnet seine Partei als liberal-konservativ. Sich selbst bezeichnete Babacan als streng muslimisch, seine Ehefrau trägt ein Kopftuch.
Dem Bündnis fehlt eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung
Auch der Gründer und Chef der sechsten Partei im Bündnis, Ahmet Davutoglu von der Zukunftspartei, hat zuvor Karriere in der AKP gemacht. Unter Erdogan war er erst Außenminister, später sogar Ministerpräsident. Im März 2016 handelte Davutoglu als AKP-Premier das Flüchtlingsabkommen mit der EU aus. Kurz darauf musste er wegen Differenzen mit Erdogan und dem Parteivorstand zurücktreten. Im Oppositionsbündnis kämpft er nun um die Abschaffung des Abkommens. In Ankara wird er als designierte EU-Minister einer neuen Regierung gesehen.
Präsidentschaftskandidat Kilicdaroglu wird außerdem von der prokurdischen HDP unterstützt, der zweitstärksten Oppositionspartei im Parlament, die jedoch offiziell nicht Teil des Wahlbündnisses ist. Die Unterstützung der Partei wurde schnell zur offenen Flanke des Bündnisses, weil viele im Land der HDP Verbindungen zur PKK unterstellen.
Einige Abgeordnete und Funktionäre der Gruppe sind mit ehemaligen oder aktiven PKK-Mitgliedern verwandt oder verheiratet. Gleichzeitig steht die Partei für eine weitere Aussöhnung mit Kurdinnen und Kurden im Land. Die HDP hat keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt und empfiehlt Unterstützern, Kilicdaroglu zu wählen.
Das Bündnis hat zwar ein 240 Seiten starkes Wahlmanifest erstellt. Das größte und nach Meinung von Beobachtern einzige echte Wahlversprechen ist allerdings die Abschaffung von Erdogans Präsidialsystem. Per Verfassungsänderung möchte die Koalition ein „gestärktes parlamentarisches System“ errichten, in dem verschiedene Institutionen an der Politikgestaltung beteiligt sind und nicht, wie aktuell, vor allem der Präsident selbst.
Das Problem: Für eine solche Verfassungsänderung dürfte dem Bündnis die nötige Dreifünftelmehrheit fehlen. Nach allem, was bisher bekannt ist, müsste die Koalition im Falle eines Wahlsiegs die gesamte Legislaturperiode in Erdogans Präsidialsystem regieren. Erst beim nächsten Wahlgang, beziehungsweise bei vorgezogenen Neuwahlen, könnte die Koalition erneut um eine Dreifünftelmehrheit werben.
Das Bündnis ist alles andere als ein Bollwerk gegen den islamisch-konservativen Präsidenten. Viele reden sogar bereits jetzt davon, dass es sich nur um eine Übergangsregierung handeln könnte. Doch was nach einer unwählbaren Allianz und vielen Unsicherheiten im Falle eines Wahlsiegs klingt, ist für die Gegner Erdogans genau das, was sie wollen: ein Bündnis, das den regierenden Präsidenten aus dem Amt holt – und anschließend schaut, wie es weitergehen kann.
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