Ankara Vor den Wahlen nannten seine Unterstützer ihn noch den „Gandhi der Türkei“: Seine Wahlkampfvideos nahm der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu in einer fürs Land typischen Mittelklasseküche auf, mit türkischem Tee auf dem Tisch und versöhnlichen Worten.
Doch nachdem er und seine Partei CHP erstaunlich schlecht abgeschnitten haben, ändert der 74-Jährige seine Taktik – und schwenkt auf einen Kurs ein, den man sonst vor allem von Präsident Recep Tayyip Erdogan kannte.
Im Wahlkampf hatte Kilicdaroglu nationalistische Symbole noch vermieden, in seinem jüngsten Twitter-Video steht er hinter seinem Schreibtisch, eine große türkische Flagge neben ihm. Er gestikuliert wild, sein Gesichtsausdruck drückt Wut aus.
„Ich bin hier, und ihr seid auch hier!“, ruft er mit ernstem Gesicht in die Kamera. „Ich werde bis zum Ende kämpfen“, setzt er nach, bevor er dreimal auf die Tischplatte schlägt und im Takt ruft: „Ich – bin – hier!“
Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag hatte Erdogan laut vorläufigen Endergebnissen die meisten Stimmen erhalten. Die erforderliche absolute Mehrheit von mehr als 50 Prozent verpasste er aber knapp mit 49,51 Prozent. Kilicdaroglu kam auf 44,8 Prozent der Stimmen. Beide treten am 28. Mai in einer Stichwahl erneut gegeneinander an.
Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt Erdogans Wahlbündnis voraussichtlich eine komfortable Mehrheit. Damit verfehlt die Opposition ihr wichtigstes Ziel. Sie warb für eine Verfassungsänderung, um Erdogans Präsidialsystem abzuschaffen. Dafür hätte sie eine Dreifünftelmehrheit benötigt.
Schlechte Stimmung nach den Wahlen in der CHP
Nach den Wahlen ist die Enttäuschung im Oppositionslager groß. „Die Stimmung ist sehr gedrückt“, sagt ein Funktionär von Kilicdaroglus Partei CHP dem Handelsblatt. Auch in Oppositionsmedien kommt Kilicdaroglu nicht gut weg. „Das bedeutet wohl, dass das Volk wohlgenährt ist!“, titelte etwa die Zeitung „Sözcü“ in Anspielung auf die hohe Zahl an Stimmen für Amtsinhaber Erdogan, trotz hoher Inflation insbesondere bei Lebensmitteln.
Mit fünf weiteren Parteien war Kilicdaroglu angetreten, Erdogan zu besiegen. Eine weitere Partei, die prokurdische HDP, stellte absichtlich keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf und empfahl ihren Wählerinnen und Wählern, für Kilicdaroglu zu stimmen. Genützt hat es wenig.
Der dritte Präsidentschaftskandidat, der Nationalist Sinan Ogan, holte mit fünf Prozent nicht nur einen Achtungserfolg. Vermutlich holte er auch viele Stimmen von Wählerinnen und Wählern, denen die Zusammenarbeit des Oppositionsbündnisses mit der HDP nicht gefallen hatte.
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Ob das der einzige Grund für das schwache Abschneiden ist, darf bezweifelt werden. Kurz nach Bekanntgabe der offiziellen Wahlergebnisse reichte der Vizechef der digitalen Kampagne des Oppositionskandidaten, Onursal Adigüzel, seinen Rücktritt ein. Intern heißt es, er sei dazu gedrängt worden, weil er nach der verlorenen Wahl 2018 zum zweiten Mal in sozialen Medien nicht genügend Momentum habe aufbauen können.
Innerhalb der Partei hat zudem längst die Debatte begonnen, ob Kilicdaroglu der richtige Mann gegen Erdogan gewesen ist. Dass Kilicdaroglu seit einem Jahr unter anderem darauf bestanden habe, kleineren Parteien für ihre Unterstützung rund ein Fünftel aller CHP-Parlamentssitze zu schenken, ohne die Parteibasis auch nur zu konsultieren, wird in seinem engeren Umfeld inzwischen als „Zumutung“ bezeichnet.
Innerhalb des obersten Führungszirkels wird nun auch die Frage offen diskutiert, ob man den guten Umfragewerten kurz vor dem Wahlgang zu viel Vertrauen geschenkt und sich darauf ausgeruht habe.
Umfragen hatten Kilicdaroglu vor Erdogan gesehen
Meinungsumfragen zahlreicher Unternehmen zufolge lag Kilicdaroglu wochenlang vor Erdogan. Seit Sonntagabend ist klar, dass diese Umfragen größtenteils danebengelegen haben.
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Das Meinungsforschungsinstitut MAK hatte zum Beispiel in einer am 7. Mai veröffentlichten Umfrage angegeben, dass Kilicdaroglu bei der Präsidentschaftswahl 50,9 Prozent erreichen werde, genug, um sich einen Sieg im ersten Wahlgang zu sichern.
Nach der Wahl erklärte der MAK-Vorsitzende Mehmet Ali Kulat, die Umfragen seien unter anderem durch die schweren Erdbeben im Februar und den muslimischen Fastenmonat Ramadan zwischen Mitte März und Mitte April erschwert worden.
Zwischen dem Ende von Ramadan und den Wahlen lagen etwa zwanzig Tage, in den zehn Tagen vor einer Wahl sind Umfragen aber nicht erlaubt, erklärte er. Zugleich gab er zu: „Als Forschungsunternehmen sollten wir keine Ausreden finden.“
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