New York, Washington Es ist der 16. November und im Dinner-Saal des edlen New Yorker Metropolitan Club nimmt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Henry-Kissinger-Preis entgegen. Auf der Bühne des mit goldenem Stuck und roten Samtvorhängen geschmückten Raums sitzen Steinmeier und die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice.
Doch der Blick des Publikums richtet sich auf den großen Bildschirm in der Ecke, der die Laudatio von Henry Kissinger persönlich überträgt. Da sich der 99-Jährige zu dem Zeitpunkt noch von einer Covid-Infektion erholt, hat ihm der Arzt von dem Treffen mit so vielen Menschen abgeraten.
Die Stimme des ehemaligen Sicherheitsberaters und Harvard-Professors ist brüchig, der Körper gebeugt, als er vor seinem Bücherregal spricht. Aber die Gedanken sind klar und spiegeln auch die Geschichte des Mannes wider, der 1923 in eine jüdische Familie im mittelfränkischen Fürth geboren wurde und später die US-Außenpolitik wohl wie kaum ein anderer beeinflusst hat.
Nach den Lobesworten für Steinmeier verurteilt Kissinger in seiner Rede zwar den russischen Angriff auf die Ukraine. Aber er spricht auch die Hoffnung aus, dass Russland in der Zukunft wieder Teil der internationalen Gemeinschaft werde. „Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es keiner für möglich gehalten, dass der Aggressor Deutschland sich zu so einem verlässlichen Alliierten entwickelt“, mahnt der ehemalige Sicherheitsberater, nach dem der Preis der American Academy in Berlin benannt ist.
Am 27. Mai wird Kissinger 100 Jahre alt. Sein Leben ist geprägt von den großen Bedrohungen der Welt, angefangen mit der Flucht seiner Familie vor dem Holocaust, als er 15 Jahre alt war. Doch kurz vor seinem 100. Geburtstag treiben ihn vor allem die Gefahren der Moderne um. Nicht nur der Krieg in der Ukraine, sondern auch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.
Kissinger rät, bei KI auf China zuzugehen
Er sei „besessen“ vom Thema Künstliche Intelligenz, erzählt er nur eine Woche nach der Preisverleihung an Steinmeier auf dem Forum „Men, Machine, God“ in der National Cathedral von Washington. Auf dem Podium sitzen der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt und Anne Neuberger, stellvertretende nationale Sicherheitsberaterin im Weißen Haus. Die Frage, wie man die „potenziell zerstörerischen Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz begrenzen“ könne, halte ihn nachts wach, sagt Kissinger.
Zusammen mit Schmidt und dem Informatikprofessor Daniel Huttenlocher hat Kissinger bereits 2021 das Buch „Das KI-Zeitalter – und unsere menschliche Zukunft“ veröffentlicht. Lange vor ChatGPT.
Neue Abkommen für Rüstungskontrolle müssten die Regulierung von KI zur obersten Priorität erklären, meint der frühere US-Außenminister. Wenn die Weltmächte keine Mittel und Wege finden, um KI einzuhegen, sei der technologische Fortschritt „einfach ein verrücktes Wettrennen, das in eine Katastrophe führt“.
Anschließend fordert Kissinger US-Präsident Joe Biden auf, auf China zuzugehen. „Es ist unmöglich, dass eine Seite das Rennen um KI gewinnt. Deshalb sollten sich beide Seiten verpflichten, keinen Hightech-Krieg gegeneinander zu führen.“
Auch wenn Bidens Regierung einen anderen Weg einschlägt und die USA technologisch von China loslösen will, ist Kissingers Einfluss in Washington noch immer spürbar. Als Außenminister und nationaler Sicherheitsberater von Richard Nixon in den 1970er-Jahren.
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Dort bereitete er mit einer geheimen Chinavisite 1971 nicht nur die erste Annäherung zwischen den USA und China vor. Er nahm auch eine Schlüsselrolle im Vietnamkrieg ein – die bis heute hochumstritten ist.
1973 bekam er den Friedensnobelpreis für ein Waffenstillstands- und Abzugsabkommen mit Nordvietnam, doch im Zuge der amerikanischen Flächenbombardements auf Kambodscha wurden Hunderttausende Menschen getötet. Auch die umstrittene Politik der USA in Argentinien und Chile begleitete er als Berater.
Sein Rat wurde von Republikanern und Demokraten angenommen
Kissinger definierte die Rolle des Nationalen Sicherheitsberaters neu: Seit der Nixon-Regierung werden nationale Sicherheitsinteressen der USA zentral aus dem Weißen Haus heraus gesteuert. So ist es bis heute. Kissinger beriet fast jeden US-Präsidenten in den vergangenen 50 Jahren außenpolitisch, mal mehr, mal weniger formell.
Mit seinen oft wochenlangen Reisen zwischen den Hauptstädten der Welt prägte er den Begriff der „Shuttle-Diplomatie“. Barack Obama und Donald Trump traf er mehrfach, ein offizieller Besuch im Weißen Haus von Joe Biden steht bislang noch aus.
Trotz seines fortgeschrittenen Alters meldet sich Kissinger regelmäßig zu Wort und tritt auch alle paar Monate bei Veranstaltungen in Washington auf. Bei einem Gespräch in der Denkfabrik Council on Foreign Relations im vergangenen Herbst erwähnte er auch Deutschland.
Westlichen Nationen würde der Kompass abhandenkommen, legte er nahe, durch ein „Gefühl der Unsicherheit“. Länder wie Deutschland hätten „so viele Umwälzungen in einem sehr kurzen Zeitraum durchgemacht“, sagte Kissinger, und seien deshalb eher damit beschäftigt, sich selbst zu verwalten.
Kritik für Äußerungen in Davos
In einem Bloomberg-Interview kritisierte er vor einigen Monaten die Leistungen der heutigen europäischen Staats- und Regierungschefs, von Frankreichs Emmanuel Macron bis zu Deutschlands Olaf Scholz.
Es mache ihn traurig, dass die derzeitige europäische Führung „nicht den Sinn für Richtung und Mission“ habe, den frühere Staatsoberhäupter wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in ihre Rollen eingebracht hätten.
Kritisiert wurde Kissinger im vergangenen Jahr für Äußerungen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Damals soll er suggeriert haben, für einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland sei es notwendig, dass die Ukraine Territorium an Russland abtrete. Später stellte er klar, ihm sei es vor allem darum gegangen, dass es zeitnah zu Friedensverhandlungen kommen müsse.
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Die Hoffnung auf Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg hat er auch weiterhin und setzt dabei auch auf China. „Jetzt, wo China in die Verhandlungen eingetreten ist“, könne es „zum Jahresende“ zu Friedensverhandlungen kommen, sagte er Anfang Mai in einem Interview mit dem Fernsehsender CBS anlässlich seines 100. Geburtstags.
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