Berlin Europa wird seinen Wasserstoffbedarf in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nur zum Teil aus eigener Herstellung decken können. Für Staaten wie Marokko, Tunesien oder Algerien ergeben sich daraus große Chancen. Doch die Europäer müssen sich dafür einsetzen, eine Pipeline-Infrastruktur von Nordafrika nach Europa aufzubauen – zum Nutzen beider Seiten. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer noch unveröffentlichten Deloitte-Studie, die dem Handelsblatt vorliegt.
Nach Überzeugung von Bernhard Lorentz, globaler Leiter des Bereichs Klima und Nachhaltigkeit bei Deloitte, wäre eine Wasserstoff-Pipeline von Nordafrika nach Europa ein Gamechanger. Die Infrastruktur würde dem Aufbau einer Wasserstoff-Wertschöpfungskette enormen Schub geben, sagte er dem Handelsblatt. „Ein solches Leuchtturmprojekt hätte enorme Strahlkraft, es wäre im größten Interesse Deutschlands und auch der EU. Das geostrategische Signal, das davon ausgehen würde, kann man kaum hoch genug bewerten“, ergänzte Lorentz. „Mein Eindruck ist, dass die Bundesregierung das erkannt hat.“
Tatsächlich existieren verschiedene Pläne für den Aufbau einer solchen Infrastruktur. Einerseits gibt es Gaspipelines, die von Nordafrika nach Spanien und nach Frankreich führen. Diese Pipelines könnte man umstellen auf den Transport von Wasserstoff.
Dabei sind auch Übergangsphasen denkbar, in denen man dem Erdgas Wasserstoff beimischt. Außerdem hatte ein Konsortium um den italienischen Pipelinebetreiber Snam im Frühjahr angekündigt, die Wasserstoffpipeline „South H2 Corridor“ bauen zu wollen. Sie soll von Tunesien und Algerien bis nach Bayern verlaufen. Allerdings ist noch keine finale Investitionsentscheidung gefallen.
Die Versorgung mit grünem Wasserstoff ist für die deutsche Industrie essenziell. Branchen wie Stahl, Chemie und Zement sind auf klimaneutralen Wasserstoff angewiesen, um ihre Prozesse klimaneutral werden zu lassen und Öl oder Kohle zu ersetzen. Auch für den Schwerlast- und Flugverkehr wird grüner Wasserstoff benötigt.
42 Prozent der Wasserstoff-Nachfrage werden auf die Industrie entfallen
Die Nachfrage nach grünem Wasserstoff wird nach übereinstimmender Einschätzung vieler Experten in den kommenden Jahren stark steigen. Nach Berechnungen der Deloitte-Experten werden dabei 42 Prozent der Nachfrage bis 2050 auf die Industrie entfallen, 36 Prozent auf den Verkehr.
In der Bundesregierung kalkuliert man damit, dass der deutsche Wasserstoffbedarf nur zu 30 Prozent aus inländischer Produktion gedeckt werden kann, weil die Möglichkeiten zur Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen hierzulande begrenzt sind.
Sonnen- und windreiche Weltregionen haben daher gute Chancen, an dem Aufbau einer Wasserstoffproduktion zu verdienen. Für die Herstellung von grünem Wasserstoff wird Strom aus erneuerbaren Quellen benötigt. Mit dem Strom werden Elektrolyseure betrieben, in denen Wasser in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt wird.
Die Bundesregierung arbeitet daran, Lieferbeziehungen mit potenziellen Lieferanten von grünem Wasserstoff aufzubauen. Entscheidendes Vehikel dafür ist die von der Bundesregierung mit 4,4 Milliarden Euro ausgestattete Stiftung „H2 Global“. Diese schließt einerseits langfristige Abnahmeverträge im Ausland, um Wasserstoffproduzenten Planungs- und Investitionssicherheit zu geben.
>>Lesen Sie dazu auch: Aus diesen Ländern könnte Deutschland künftig Wasserstoff beziehen
Andererseits vereinbart „H2 Global“ auch Verkaufsverträge, um den Bedarf an grünem Wasserstoff zu bedienen. Dieser wird zu möglichst niedrigen Preisen angekauft und anschließend an den Abnehmer veräußert, der den höchsten Preis zahlt. Sofern dabei, wie derzeit erwartet, zumindest in den ersten Jahren ein Verlust entsteht, soll die Stiftung ihn aus den Fördermitteln des Wirtschaftsministeriums ausgleichen.
So viel soll in die Wasserstoff-Wertschöpfungskette investiert werden
Das Modell gilt als wegweisend. „H2 Global“ habe das Potenzial, eine Leitfunktion für die gesamte Marktentwicklung zu übernehmen, heißt es in einer am Dienstag vorgestellten Studie, an der die Wirtschaftsweise Veronika Grimm und der Wasserstoffexperte Michael Sterner federführend mitgearbeitet haben.
Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erreichen zu können, müssen nach Deloitte-Berechnungen bis 2050 rund 9,4 Billionen Dollar in die Wasserstoffversorgungskette investiert werden, davon 3,1 Billionen Dollar in den Entwicklungsländern. Im Durchschnitt sind das rund 375 Milliarden Dollar pro Jahr.
Die Summe klingt gigantisch, der Betrag liegt aber unter den jährlichen weltweiten Ausgaben für Öl- und Gasförderung, die sich im Jahr 2022 auf rund 417 Milliarden Dollar beliefen.
>> Lesen Sie hier: Chile riskiert seine Zukunft als Lieferant von grünem Wasserstoff
Lorentz rechnet mit positiven Effekten für die Länder des globalen Südens, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt: „Grüner Wasserstoff wird sich für Entwicklungs- und Schwellenländer zu einer Jobmaschine entwickeln“, sagt er.
Zugleich dürften die Herstellungskosten in den kommenden Jahren rapide fallen. Die Kostendegression werde schnell voranschreiten, die Kosten sinken also, je mehr produziert wird. „Das ist allenfalls vergleichbar mit der Kostendegression, die wir bei Photovoltaikmodulen gesehen haben.“
Auch Industriestaaten werden zu relevanten Exporteuren
Doch nicht nur Entwicklungs- und Schwellenländer profitieren. Deloitte geht davon aus, dass bis 2050 auf vier Regionen insgesamt 46 Prozent der weltweiten Wasserstoffproduktion entfallen: Neben Nordafrika sind das Australien, Nordamerika und der Nahe Osten. Europäische Industrieunternehmen haben in den vergangenen Monaten bereits erste Liefervereinbarungen mit dem australischen Unternehmen Fortescue abgeschlossen.
Die Lieferungen könnten frühestens Mitte des Jahrzehnts erfolgen. Ehrgeizig sind außerdem die Pläne im Nahen Osten. Besonders sticht dabei Saudi-Arabien hervor. Das Land investiert massiv in den Aufbau der Wasserstoffproduktion.
Zu den wichtigsten Importzentren werden sich Europa, Japan, Korea und Indien entwickeln, die mehr als 80 Prozent des Welthandels auf sich vereinen, heißt es in der Deloitte-Studie.
Mehr: Italien will grünen Wasserstoff aus Afrika nach Deutschland bringen
<< Den vollständigen Artikel: Wasserstoff: Diese Weltregionen sind Gewinner des Booms >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.