Salvador In den vergangenen Wochen fand in Brasiliens Wirtschaft so etwas wie ein Stimmungsumschwung statt: Anfang Juni meldete das Statistikamt für das erste Quartal ein Wachstum von vier Prozent, fast doppelt so viel, wie die meisten Investmentbanken erwartet hatten. Vor allem die Landwirtschaft trug dazu bei.
Brasilien ist plötzlich die Volkswirtschaft mit dem weltweit viertstärksten Wachstum, meldete die Agentur Austin Rating. Investmentbanken wie Goldman Sachs erhöhten die Wachstumsprognose für 2023 von 1,9 Prozent auf 2,6 Prozent. Ökonomen erwarten Handelsüberschüsse, die Schuldenquote Brasiliens könnte demnächst schrumpfen.
Am Montag traf sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Lula und sagte danach, sie hoffe auf den Abschluss des geplanten Handelsabkommens mit der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur bis Ende des Jahres.
Doch Analysten scheuen sich derzeit, langfristige Prognosen für Brasilien abzugeben. Denn die gute Stimmung an den Finanzmärkten kontrastiert weiterhin mit der Skepsis, mit der die Unternehmer die Regierung Lula betrachten.
Regierung plant Verstaatlichung
Der ehemalige Arbeiterführer macht aus ihrer Sicht eigentlich fast alles falsch. Denn der Präsident hat vor allem den Ehrgeiz, alle wirtschaftlichen Reformen seines rechtspopulistischen Vorgängers Jair Bolsonaro zurückzudrehen. So attackiert Lula ständig die Zinspolitik der autonomen Zentralbank, die er am liebsten wieder unter die Kontrolle der Regierung stellen würde.
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Er will in der erfolgreich reformierten Wasserwirtschaft wieder staatliche Monopole zulassen, die dazu geführt haben, dass fast 100 Millionen der 214 Millionen Brasilianer nicht an eine Kanalisation angeschlossen sind. Damit droht er den gerade begonnenen Investitionsboom der privaten Versorger abzuwürgen.
Lula will auch die staatliche Kontrolle über die Energieholding Eletrobras wieder zurückerlangen mithilfe des Verfassungsgerichts. Der börsennotierte, aber staatliche Ölkonzern Petrobras soll wieder an der kurzen Leine der Regierung geführt werden: Die Benzinpreise sollen vom Staat „flexibel“ festgelegt werden.
Unter vorherigen Regierungen der Linkspartei hat der Konzern jahrelang Verluste eingefahren, weil er auf Geheiß Brasilias Treibstoffe unter den Produktionskosten verkaufen musste, um das Wachstum anzuschieben und die Inflation niedrig zu halten. Nun soll der Konzern wieder die industrielle Zugmaschine Brasiliens werden.
Die nationale Entwicklungsbank BNDES wird wieder „Wachstumsbranchen“ bestimmen, in denen Unternehmen subventionierte Kredite bekommen sollen.
Konzepte von vor 20 Jahren
Es würde wieder die gleiche und bereits gescheiterte staatliche Entwicklungspolitik gemacht, sagt Arminio Fraga, Ex-Zentralbankpräsident und Fondsmanager. So wird die Regierung nun den Kauf von Kleinwagen subventionieren. Doch das hilft weder den Armen Brasiliens – wie Lula die Maßnahme rechtfertigt – noch der Klimabilanz des Landes. Doch Lula hofft auf Jobs und Einkommen in der Autoindustrie.
Schon wieder versuche die Regierung sich in einer Industriepolitik, die nicht funktioniert habe und ab 2013 zur größten Krise der brasilianischen Wirtschaft geführt habe, kritisiert der Ökonom Samuel Pessoa.
In den Regierungen Lulas und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff war um den Staatskonzern Petrobras und die privaten Baukonzerne des Landes ein gigantisches Korruptionsnetz gewachsen. Dessen Zerschlagung führte zu einer mehrjährigen Rezession, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat.
Im Sinne der Unternehmer ist, dass Lulas Wirtschaftspolitik im Parlament keine Mehrheit hat. Nur ein Drittel der Abgeordneten ist auf der Seite des Präsidenten. Arthur Lira, der mächtige Präsident des Abgeordnetenhauses, hat klargemacht, dass Lula mit seinem Wirtschaftskurs keinen Erfolg haben wird. Im Kongress hat Ex-Präsident Bolsonaro noch eine starke Basis, ebenso die Agrarlobby und die Evangelikalen.
Brasiliens Umweltmaßnahmen scheitern im Parlament
Dort scheitert allerdings nicht nur das staatsgläubige Wirtschaftsprogramm, sondern auch Lulas Umwelt- und Amazonasschutzkonzept. Der Präsident will verstärkte Überwachung und höhere Strafen gegen illegale Abholzung und illegalen Bergbau.
Für die Zusammenarbeit mit dem Westen und die Chancen des EU-Mercosur-Abkommens wäre das wichtig. Scheitert das Konzept, werden mittelfristig ausländische Investoren abgeschreckt, deren Engagements in Brasilien auf Nachhaltigkeitskriterien geprüft werden.
Dann könnten sich die Wirtschaftsdaten des Landes auch schnell wieder in eine andere Richtung entwickeln. So zeigt sich selbst in den guten Zahlen des ersten Quartals, dass die Investitionen insgesamt sowie die Industrieproduktion gesunken sind. Investitionen in der Industrie braucht Brasilien dringend, wenn es die niedrige Produktivität seiner Wirtschaft steigern will.
Die Credit-Suisse-Chefökonomin Solange Srour hat ausgerechnet, dass Brasilien seine Produktivität jährlich um zwei Prozent steigern müsste, um mehr als zwei Prozent im Jahr zu wachsen. Doch das ist der brasilianischen Volkswirtschaft in den letzten 40 Jahren noch nie gelungen. Nur um durchschnittlich 0,8 Prozent hat die Produktivität zugelegt.
Vermutlich wird der Ex-Gewerkschafter Lula in den nächsten Monaten den Landwirten Brasiliens dankbar sein müssen – obwohl er die Farmer genauso geringschätzt wie die ihn. Doch die Agrarexporte könnten die wirtschaftliche Bilanz im ersten Amtsjahr retten.
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