Berlin Wer die Sprachsoftware ChatGPT bittet, ein Gutachten zu schreiben, „wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung tun würde“, bekommt bloß ein paar Allgemeinplätze: Abbau von Handelsbarrieren, Investitionen in Bildung, Bekämpfung des Klimawandels.
Angst vor Künstlicher Intelligenz muss der Sachverständigenrat also erst einmal nicht haben, auch 60 Jahre nach seiner Gründung nicht. An diesem Mittwoch begehen die Wirtschaftsweisen, wie die fünf Ratsmitglieder gemeinhin genannt werden, ihr Jubiläum in Berlin. Mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundesbank-Präsident Joachim Nagel haben sich prominente Redner angekündigt.
Bei dem Festakt dürfte aber weniger der Blick zurück im Fokus stehen als vielmehr der nach vorn. Denn nach fast drei Jahren ist die größte Krise der Wirtschaftsweisen überstanden. Erst hatte sich die Ex-Regierung aus Union und SPD nicht auf die Nachfolge des früheren Vorsitzenden Lars Feld einigen können, der im Februar 2021 ausschied. Der Rat war folglich fast eineinhalb Jahre lang dezimiert. Erst recht, als im April 2022 auch noch Volker Wieland das Gremium verließ.
Es dauerte bis in den Spätsommer des vergangenen Jahres, bis die Bundesregierung mit Martin Werding und Ulrike Malmendier die Nachfolger berief. Als die Wirtschaftsweisen wieder zu fünft waren, drückte noch die Frage die Stimmung, wer den Vorsitz übernimmt. Letztlich setzte sich Monika Schnitzer mit der Mindestmehrheit von drei Stimmen durch.
Doch die turbulenten Zeiten für das Gremium gehen weiter. Der Sachverständigenrat hat sich in den 60 Jahren seines Bestehens institutionell wenig verändert. Die Welt, die er begutachtet, dafür umso mehr. Wirtschaft und Politik sind schnelllebiger geworden, Kommunikationswege digitaler und kürzer.
Sachverständigenrat erwägt „Policy Briefs“
In der Arbeitsweise des Sachverständigenrats bildet sich das bislang wenig ab. Einmal im Jahr, im Herbst, veröffentlicht der Rat sein Jahresgutachten. Der Wälzer mit mehreren Hundert Seiten passt aber immer weniger zu den realwirtschaftlichen Begebenheiten, ist man sich im Rat einig.
Anstatt einmal im Jahr geballt will man sich in Zukunft häufiger zu Wort melden. Im Gespräch sind laut Ratskreisen „Policy Briefs“, also kurze Analysen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen.
Thematisch gehen die Überlegungen für die erste Ausgaben in Richtung des US-amerikanischen Subventionsprogramms Inflation Reduction Act und der europäischen Antwort darauf.
So könnte der Rat künftig häufiger die Schlagzeilen bestimmen. Das gelang ihm zuletzt beim vergangenen Jahresgutachten. Damals schlugen die Wirtschaftsweisen vor, Spitzenverdiener vorübergehend höher zu besteuern, um die Ungenauigkeiten der staatlichen Gaspreisbremse auszugleichen. Die Steuerpolitik dürfte ein zentraler Diskussionspunkt im Rat werden. Die Ratsmitglieder Veronika Grimm und Martin Werding sehen den damaligen Vorschlag laut Ratskreisen inzwischen skeptisch.
Auch die Politik will die Position des Rats stärken. Der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP, Reinhard Houben, schlägt in einem Papier, das dem Handelsblatt vorliegt, vor, dass die Bundesregierung ein jährliches Update vorlegt, welche Vorschläge der Wirtschaftsweisen sie umgesetzt hat.
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Die Mitglieder des Gremiums treiben zudem einen Umzug nach Berlin voran. Der Sachverständigenrat ist beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden angesiedelt – weit weg von den wirtschaftspolitischen Debatten in Berlin.
Wünsche nach einem Umzug nach Berlin kursieren im Rat seit Jahren. Mit den Abgängen von Feld, der in Freiburg lehrt, und Wieland, der in Frankfurt heimisch ist, scheint der Weg nun frei. Zuletzt haben mehrere Ratssitzungen in Berlin stattgefunden. Jetzt geht es darum, das Statistische Bundesamt und die Bundesregierung von einem dauerhaften Umzug zu überzeugen.
Stabs-Wissenschaftler kaum bekannt
Das dürfte es auch leichter machen, Ökonominnen und Ökonomen für den Stab hinter dem Rat zu rekrutieren. Die Wissenschaftler, aktuell sind es rund zwanzig, werden öffentlich kaum wahrgenommen. Sie nehmen aber eine wichtige Rolle ein, schreiben große Teil des Jahresgutachtens und sind für die Konjunkturprognose verantwortlich.
Anfang dieses Monats ist dem Sachverständigenrat ein Coup gelungen: Der Chefredakteur der Fachzeitschrift „Wirtschaftsdienst“, Christian Breuer, wechselt in den Wirtschaftsweisen-Stab. Breuer, der früher am Ifo-Institut in München beschäftigt war, hatte erst im vergangenen Jahr das Angebot des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin ausgeschlagen, Co-Chef der Konjunkturabteilung zu werden.
<< Den vollständigen Artikel: Wirtschaftspolitik: 60 Jahre Wirtschaftsweise: Wie sich der Sachverständigenrat neu aufstellt >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.