Vilnius Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius soll an diesem Dienstag und Mittwoch eine der folgenschwersten Entscheidungen über die europäische Sicherheitsarchitektur seit dem Ende des Kalten Kriegs getroffen werden.
Geht das westliche Verteidigungsbündnis auf das Beitrittsgesuch der Ukraine ein? Sind die Bündnispartner trotz des unvermindert wütenden russischen Angriffskriegs bereit, die bisher unverbindliche Nato-Perspektive für Kiew zu konkretisieren?
US-Präsident Joe Biden hat eine klare Antwort auf diese Fragen: Nein. Die Ukraine sei „noch nicht bereit“, sagte er kurz vor seiner Abreise in die litauische Hauptstadt. Doch damit endet die Debatte nicht, sie beginnt erst. Auf keinen Fall will die Nato in Vilnius das Signal senden, sie würde die Ukraine in ihrem Abwehrkampf im Stich lassen.
Biden zufolge wollen die Amerikaner umfangreiche Sicherheitszusagen unterbreiten – und die Ukraine damit in die Lage versetzen, russische Angriffe aus eigener Kraft zurückzuschlagen.
Von einem Israel-Modell ist die Rede, das die Zeit zwischen einem Waffenstillstand in der Ukraine und einem möglichen Nato-Beitritt überbrücken soll. Israel verfügt über keinen formalen Verteidigungspakt mit den USA, erhält aber von den Amerikanern umfangreiche Waffenlieferungen und technologische Unterstützung.
Scholz lehnt Beitrittsautomatismus ab
Im Falle der Ukraine sollen die amerikanischen Sicherheitszusagen durch ähnliche bilaterale Arrangements mit den europäischen Partnern ergänzt werden. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt einen Automatismus oder einen Zeitplan für den Nato-Beitritt ab. Stattdessen bezeichnet er es als „Top-Priorität“ des Gipfels, die Kampfkraft der Ukrainer zu stärken.
Der Regierung in Kiew ist das zu wenig. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski strebt die schnellstmögliche Eingliederung in die Nato an, auch wenn ihm klar ist, dass ein Beitritt erst nach Ende des Krieges realistisch ist. Selenski will daher zumindest eine verbindliche Zusage für die Zukunft: eine offizielle Einladung, der Allianz beizutreten, wenn der Krieg vorbei ist.
Aus ukrainischer Perspektive wäre jedes Ergebnis, das keine realistische Beitrittsperspektive beinhaltet, eine Enttäuschung. Unterstützung erhält Selenski von nord- und osteuropäischen Nato-Staaten. Auch im französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat Kiew neuerdings einen Fürsprecher.
Die Lehren von Budapest
Alle in der Nato wissen: Die Ukraine hat schlechte Erfahrungen mit Sicherheitsgarantien gemacht. Im Budapester Memorandum, 1994 geschlossen, wurde ihr von Russland, den USA und Großbritannien die territoriale Unverletzlichkeit zugesichert. Doch das Abkommen hat sich als schwere Fehlkalkulation erwiesen.
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Damals trat die ukrainische Regierung die auf ihrem Land stationierten Kernwaffen der zusammengebrochenen Sowjetunion an Russland ab. Die Sicherheitsversprechen, die die Ukrainer im Gegenzug erhielten, waren wertlos. Ohne eigene atomare Abschreckung wurde ihr Land zum Opfer der imperialen Ideen von Kremlherrscher Wladimir Putin.
Um die Ukraine zieht Biden eine klare Grenze, solange dort der Krieg gegen Russland herrscht.
(Foto: IMAGO/NurPhoto)
Ein Nato-Beitritt würde die Ukraine unter den nuklearen Schutzschirm der USA stellen. Aber genau das wollen die Amerikaner nicht zulassen, solange der Ausgang des Kriegs gegen die russischen Invasoren und die politische Zukunft des Landes unklar sind.
Präsident Biden hat immer wieder betont, dass das Bündnisversprechen der Nato, festgehalten in Artikel fünf des Nordatlantikvertrags, „heilige“ Bedeutung für ihn hat. Die USA seien entschlossen, „jeden Zentimeter“ des Nato-Territoriums zu verteidigen.
Eine Ukraine außerhalb der Nato würde bedeuten, dass der Krieg wiederkehren kann. Oleksii Makeiev, ukrainischer Botschafter in Deutschland
Doch um die Ukraine zieht Biden eine klare Grenze, solange dort der Krieg gegen Russland herrscht. Denn auch das hat der US-Präsident unmissverständlich klargemacht: Die USA wollen nicht in eine Konfrontation mit den russischen Streitkräften hineingezogen werden, die zum atomaren Schlagabtausch eskalieren könnte.
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Zudem ist die vage Aussicht auf einen Beitritt aus Washingtoner Sicht auch politisch nützlich: Sie dient als Hebel, Reformen in der Ukraine durchzusetzen, etwa bei der Bekämpfung der Korruption oder der Stärkung demokratischer Institutionen
USA sehen keinen Konsens in der Allianz
Das Israel-Modell ist damit der Versuch, die Ukraine zu vertrösten – und zugleich ein Zerwürfnis in der Allianz zu vermeiden. „Ich glaube nicht, dass es in der Nato Einstimmigkeit darüber gibt, die Ukraine jetzt, in diesem Moment, inmitten eines Kriegs, in die Nato-Familie aufzunehmen“, sagte Biden am Wochenende in einem Fernsehinterview. Oberstes Ziel der USA sei es, die Allianz zusammenzuhalten.
Ob das mit dem Plan für Sicherheitszusagen gelingt, ist offen. Trotz wochenlanger Gespräche ist es den Vertretern der Nato-Staaten bisher nicht gelungen, einen Konsens über die Ukrainepassage in der Abschlusserklärung von Vilnius zu finden. Für die Nato ist das äußerst ungewöhnlich. In der Allianz wird selten bis zum letzten Moment um Formulierungen gefeilscht.
Hohe Erwartungen an Nato-Gipfel in Litauen
Bei der Übertragung des Israel-Modells auf die Ukraine ergeben sich erhebliche Probleme, auf die gerade osteuropäische Nato-Diplomaten hinweisen. Das wichtigste: Israel verfügt über Kernwaffen.
Die atomare Wiederbewaffnung der Ukraine steht hingegen nicht zur Debatte. Insofern würde sich das Arrangement mit Kiew, wenn überhaupt, nur um ein zweitklassiges Israel-Modell handeln. Zudem würde die Hochrüstung Unmengen Geld verschlingen und Produktionskapazitäten der westlichen Rüstungsindustrie binden, die auch dazu benötigt werden, die eigenen Streitkräfte der Nato-Staaten wieder kriegstüchtig zu machen.
Ukraine schon seit 15 Jahren Nato-Kandidat
Die USA unterstützen Israel jedes Jahr mit etwa 3,8 Milliarden US-Dollar. Nach einem jüngsten Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses hat kein anderes Land seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehr amerikanische Militärhilfen erhalten. Im Fall der Ukrainer dürfte der Hilfsbedarf jedoch noch größer sein. Anders als die von Iran und arabischen Ländern bedrängten Israelis sehen sich die Ukrainer einer Großmacht gegenüber.
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Auch deshalb dringt die ukrainische Regierung seit Wochen auf die Nato-Perspektive. In den vergangenen Tagen besuchte Selenski Bulgarien, die Tschechische Republik, die Slowakei und die Türkei, um für seine Position zu werben.
So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Krieg:
Hauptsorge der Ukrainer ist, dass eine Vertagung der Beitrittsverhandlungen auf die Zeit nach Kriegsende bedeutet, dass Russland einen Anreiz hat, seine Aggression fortzusetzen. Wenn bei einem Friedensschluss der Nato-Beitritt der Ukraine droht, den der Kreml unbedingt verhindern wollte, könnte Putin versucht sein, den Konflikt je nach Bedarf immer wieder aufflammen zu lassen.
„Eine Ukraine außerhalb der Nato würde bedeuten, dass der Krieg wiederkehren kann“, sagt der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev. Der „einzige Weg“, der russischen Aggression gegen Europa ein Ende zu setzen, sei das „Senden eines starken Signals“ beim Nato-Gipfel. Die Nato dürfe keine Zweideutigkeit mehr zulassen, auch wenn der Beitritt der Ukraine noch nicht heute oder morgen geschehen werde.
Seit Wochen versucht die Ukraine inzwischen, Teile der von Russland geraubten Gebiete zurückzuerobern.
(Foto: AP)
Beitrittskandidat ist die Ukraine schon seit 15 Jahren. „Die Ukraine wird Nato-Mitglied werden“, bekräftigt Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Allianz, daher immer wieder – ohne aber die entscheidende Frage zu beantworten, wann das sein wird. 2008 gab die Nato die Beitrittszusage, nannte aber keinen Zeitraum. Diesen Zustand der Ungewissheit nutzte Putin aus, als er 2014 mit der Annexion der Krim-Halbinsel den Angriff auf die Ukraine begann.
Seit Wochen versucht die Ukraine inzwischen, Teile der von Russland geraubten Gebiete zurückzuerobern. Doch die lange vorbereitete Gegenoffensive kommt nur langsam voran. Beobachter sehen den Grund dafür in den starken Verteidigungslinien der Russen, Problemen beim Munitionsnachschub und der Überlegenheit der russischen Luftwaffe.
Neben der Verkündung neuer Waffenlieferungen – deutsche Regierungsvertreter sprachen am Montag von einem „sehr substanziellen“ Paket – könnte nach Angaben von Diplomaten in Vilnius die Entscheidung einer europäischen Staatenkoalition fallen, ein Ausbildungsprogramm für ukrainische F-16-Piloten zu beginnen.
Die Kampfjets, die der Ukraine bisher in ihrem Arsenal fehlen, sind den russischen Modellen teils deutlich überlegen und könnten einen Beitrag dazu leisten, die Kriegsgunst zu wenden.
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