Berlin Die Bundesregierung fürchtet, dass sich angesichts der hohen Inflation die wirtschaftliche Lage privater Haushalte deutlich verschärfen könnte. „Die gestiegenen Preise stellen viele Menschen vor ernsthafte Probleme“, sagte Bundes-Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) dem Handelsblatt.
Viele Bürgerinnen und Bürger seien schon jetzt „erheblich überschuldet“, erklärte die Ministerin mit Blick auf aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes.
Nach den Ende Juni veröffentlichten Daten betrug die finanzielle Last Überschuldeter in Deutschland im vergangenen Jahr das 26-Fache des durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens aller Menschen, die durch Schuldnerberatungsstellen betreut wurden.
Im Schnitt saßen demnach Betroffene auf einem Schuldenberg von 30.940 Euro. Dem stand ein monatliches Nettoeinkommen vom 1189 Euro gegenüber. Verschuldungsexperten und Ökonomen sehen einen nach wie vor starken Kostendruck, der insbesondere einkommensschwache Haushalte übermäßig belastet.
Die Konsequenz sei „eine Zunahme an Überschuldung und Privatinsolvenzen, da vielen Menschen mit wenig Einkommen keine andere Wahl bleibt, als ihre höheren Lebenshaltungskosten durch eine zunehmende Verschuldung zu finanzieren“, sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher.
Der Leiter der Creditreform-Wirtschaftsforschung, Patrik-Ludwig Hantzsch, teilt die Einschätzung. „Der andauernde finanzielle Stress setzt den Verbrauchern doppelt zu“, sagte er dem Handelsblatt.
„Die Lebenshaltungskosten wie Strom, Miete, Lebensmittel und andere Investitionen fressen einen großen Teil des Einkommens und der Ersparnisse.“ In der Folge hätten viele Bürger keine Chance, etwas für schlechtere Zeiten zur Seite zu legen. „Das wird absehbar zu einer höheren Verschuldung und Überschuldung führen.“
Im Fall der Überschuldung können Schuldner den Forderungen ihrer Gläubiger weder mit ihrem Vermögen noch mit erwartetem Einkommen nachkommen. Als Privatperson kann man in dieser Situation Privatinsolvenz anmelden.
Bundesbank-Präsident Nagel: „Die Inflation hat insgesamt an Breite gewonnen“
Die Wirtschaftsauskunftei Crif rechnet mit bis zu 100.000 Privatinsolvenzen im laufenden Jahr, nach 96.321 im vergangenen Jahr. „Durch die weiter steigenden Kosten ist eine Verschuldungswelle in Deutschland möglich“, sagte Crif-Geschäftsführer Frank Schlein unlängst. „Wenn die Kosten stark steigen, wird es für Personen, die schon bislang am Existenzminimum leben, schwierig.“ Bei vielen seien auch die finanziellen Reserven nach der Coronazeit aufgebraucht, erklärte Schlein.
Fratzscher sprach mit Blick auf betroffene Haushalte von einer „höchst unsozialen Krise“. Denn Geringverdiener seien mit einer zwei- bis dreimal stärkeren Verteuerung der Lebenshaltungskosten konfrontiert als Menschen mit hohen Einkommen. „Der Grund ist, dass Menschen mit geringen Einkommen einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für Lebensmittel und Energie ausgeben müssen, also für Produkte, die sehr viel teurer geworden sind.“
Die Verbraucherpreise waren zuletzt nach drei Rückgängen in Folge wieder gestiegen. Im Juni belasteten erneut deutlich teurere Nahrungsmittelpreise (plus 13,7 Prozent) die Budgets der Verbraucherinnen und Verbraucher, wie Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen. Vor allem die Preise für Molkereiprodukte (plus 22,3 Prozent) zogen spürbar an, gefolgt von Zucker, Marmelade, Honig und andere Süßwaren (plus 19,4 Prozent).
Merklich teurer binnen Jahresfrist wurden auch Gemüse (plus18,8 Prozent), Fisch, Fischwaren und Meeresfrüchte (plus18,5 Prozent) sowie Brot und Getreideerzeugnisse (plus18,3 Prozent). Hingegen waren Speisefette und Speiseöle um 12,1 Prozent günstiger als ein Jahr zuvor. Die Energiepreise stiegen mit drei Prozent unterdurchschnittlich stark.
Für eine Entwarnung ist es aus Sicht von Bundesbank-Präsident Joachim Nagel jedoch zu früh. „Denn die Inflation hat insgesamt an Breite gewonnen“, sagte er kürzlich. Die Inflationsrate in Deutschland werde vorerst hoch bleiben.
Entsprechend groß sind die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger für die kommende Zeit. Das zeigt die aktuelle Befragung „Energiepreiskrise – reicht das Geld?“ von Creditreform Boniversum, einem der führenden Anbieter von Bonitätsauskünften über Privatpersonen hierzulande.
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Mehr als die Hälfte der 1001 im März befragten Bundesbürger im Alter von 18 bis 79 Jahren (55 Prozent) geht demnach davon aus, aufgrund der aktuellen Preissteigerungen den gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Finanzielle Engpässe fürchten viele bei Strom- und Heizkosten (52 Prozent), bei Anschaffungen für das Haus oder die Wohnung (51 Prozent) und bei Mietzahlungen (36 Prozent).
Ökonomen uneins über staatliche Eingriffe
Von zunehmenden Geldsorgen geht auch die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) aus. Momentan spielten die erhöhten Energiepreise bei vielen Haushalten nur deshalb noch keine Rolle, weil etliche Energieversorger, etwa in München die Stadtwerke, keine Stromabschläge abbuchen, erklärte der stellvertretende Sprecher der AG, Michael Weinhold. „Dies wird insbesondere die Haushalte, die über keine Reserven verfügen, in eine erhebliche wirtschaftliche Bredouille bringen.“ Somit sei von einer Zunahme der Verbraucherverschuldung auszugehen.
Schuldnerberatungen verzeichnen denn auch einen Anstieg der Hilfesuchenden. Laut einer aktuellen Umfrage der AG SBV ist in 65 Prozent der Beratungsstellen die Nachfrage nach einer Schuldnerberatung im Vergleich zum Jahresanfang 2022 gestiegen. Zu der AG SBV zählen unter anderen der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und die Diakonie.
Verbraucherschutzminister Lemke rät Menschen, die nicht mehr alle Rechnungen und Kredite bezahlen können, sich frühzeitig um Beratung und Hilfe zu bemühen. „Für sie ist die Unterstützung durch Schuldnerberatungsstellen besonders wichtig, damit sie nicht in eine Schuldenspirale geraten“, sagte sie. Zusätzlichen Handlungsbedarf sieht die Grünen-Politikerin nicht.
Lemke verwies auf bereits beschlossene Maßnahmen. Mit einer Reihe von Hilfspaketen hätten etwa die gestiegenen Preise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine abgefedert werden können. Die Ministerin nannte zudem die Gas- und Strompreisbremsen, mit denen Millionen Haushalte und Unternehmen bei ihren Strom- und Heizungsrechnungen entlastet würden.
Zudem gebe es einen besseren Schutz vor Energiesperren. Damit soll verhindert werden, dass Bürgern der Strom abgestellt wird, wenn sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.
Aus Sicht von DIW-Chef Fratzscher reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus. „Eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns und des Bürgergelds, deutlich mehr Geld für die Kindergrundsicherung und direkte Finanztransfers für besonders stark betroffene Bürgerinnen Bürger sind der richtige Weg, denn die Bundesregierung einschlagen sollte“, sagte er.
Der Vizepräsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), Oliver Holtemöller, sieht indes keine Notwendigkeit für staatliche Eingriffe. Zur Begründung wies er auf die Sparquote der privaten Haushalte hin, die verglichen mit der Vor-Corona-Lage noch immer leicht erhöht sei. Eine Auflösung der hohen Ersparnisse während der Pandemie habe es bislang also nicht gegeben, erklärte der Ökonom.
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Es sei somit davon auszugehen, dass mit sinkender Inflation der private Konsum insgesamt wieder besser laufen werde, auch weil der Arbeitsmarkt weiterhin sehr stabil sei. „Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht scheinen daher auch keine neuen, spezifischen staatlichen Hilfsmaßnahmen erforderlich“, sagte Holtemöller.
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