Jul 24, 2023
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Analyse : So inspiriert Peking die Politik in Deutschland und der EU

Written by Moritz Koch


Brüssel, Germersheim „Füße weg“, ruft der Schulleiter. Die Außenministerin hat aufgepasst und macht einen Schritt zur Seite. An ihr vorbei ruckelt unbeholfen ein kleiner Roboter, die Schüler nennen ihn Robertino. Es ist ein Freitag im Juli, der letzte Tag der Sommerreise von Annalena Baerbock, die den Deutschen das Konzept der „wirtschaftlichen Sicherheit“ näherbringen soll.

Zumindest von Robertino geht vorerst keine Gefahr mehr aus. Der Roboter hat sein Ziel erreicht. Mit ausgestreckten Ärmchen lässt er sich von einem Förderband eine Plastikschale servieren.

An der Berufsschule Germersheim/Wörth in Rheinland-Pfalz lernen Auszubildende, Fabriken der Zukunft zu steuern. Die duale Ausbildung sei ein „starker Pfeiler“ für den Wohlstand in Deutschland, lobt Baerbock, was sie zu ihrem eigentlichen Thema bringt, zur Botschaft ihrer Deutschlandreise. 

Sicherheit, erläutert die Grünen-Politikerin, umfasse nicht nur die „Fähigkeit, sich wehren zu können im militärischen Sinn“, sondern auch eine „starke Wirtschaft“. Nur: Wie lange eine starke Wirtschaft Deutschland noch auszeichnet, ist zunehmend ungewiss. Die Geschäftsgrundlage für die Erfolge als Exportnation bricht weg. Der internationale Markt wird zum Spielfeld der Politik, die Welt wird protektionistischer.

Berlin und Brüssel stehen vor der Frage, wie sie das europäische Wohlstandsmodell an eine neue Zeit anpassen können – darum geht es, wenn von „wirtschaftlicher Sicherheit“ die Rede ist. Die Antwort führt nach China.

Die kommunistische Diktatur hat in den 1990er-Jahren den Westen studiert, unternehmerische Freiheiten in ihr System integriert. Nun ist es der Westen, der chinesische Erfolgsrezepte übernimmt. 

Abhängig und erpressbar

Die Europäer haben erkannt, dass sie abhängig und erpressbar geworden sind – ausgerechnet chinesische Methoden sollen helfen, das zu korrigieren. Eine staatliche Förderung von Schlüsselindustrien, strategische Produktionsziele und der gezielte Abbau handelspolitischer „Verwundbarkeiten“: All diese Elemente finden sich inzwischen in Brüsseler und Berliner Strategiepapieren wieder. 

Graphitarbeiter in China

Bei Seltenen Erden hat China faktisch ein Monopol errichtet.

(Foto: The Washington Post/Getty Images)

Den Anfang machte die EU-Kommission: „Da die geopolitischen Spannungen zunehmen und die globale wirtschaftliche Integration tiefer ist als je zuvor, können bestimmte Wirtschaftsströme und -aktivitäten ein Risiko für unsere Sicherheit darstellen“, mahnte die Brüsseler Behörde im Juni in ihrem „Konzept zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherheit“. 

Ohne China keine Energiewende – vor allem diese Sorge treibt die EU um. Bei seltenen Erden hat China faktisch ein Monopol errichtet. Auch 97 Prozent der Lithiumeinfuhren kommen aus der Volksrepublik – ein wichtiger Rohstoff für Autobatterien. Seit dem Niedergang der europäischen Photovoltaik stammen zudem acht von zehn Solarpaneele, die in Europa verbaut werden, aus chinesischer Produktion.

Die Bundesregierung antwortete mit der Chinastrategie, die Baerbock kurz vor ihrer Sommerreise vorgestellt hat und die das „Derisking“ in den Fokus rückt: den schrittweisen Abbau prekärer wirtschaftlicher Abhängigkeiten.

Derisking ist ökonomisch weit weniger disruptiv als Decoupling, das einem Abbruch der Handelsbeziehungen nahekäme. Ökonomen sind dennoch beunruhigt. Sie warnen vor zu viel Vertrauen in Industriepolitik. Jeromin Zettelmeyer, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, fürchtet ein Abdriften in einen „ökonomischen Nationalismus“ und eine „Entglobalisierung“.

So viel ist klar: Auf die Politisierung der Wirtschaft sind in Deutschland weder Politik noch Wirtschaft vorbereitet. Die Globalisierung hat insbesondere den exportorientierten Unternehmen der Bundesrepublik hohe Gewinne beschert, die Regierung hielt sich raus – um auf einmal festzustellen, wie angreifbar das Land geworden ist.

Aus chinesischer Sicht geht es um Selbstverständlichkeiten: Die Wirtschaft ist ein Instrument der Politik, schon deshalb, weil die Kommunistische Partei neben sich keine Machtzentren duldet. Handelsbeziehungen dienen daher auch nicht nur der Wohlstandsvermehrung, sie sind zugleich potenzielles Druckmittel. 

>> Lesen Sie hier: Berlins neuer China-Plan – Das sind die wichtigsten Punkte für die Wirtschaft

China hat einen autoritären Kapitalismus erschaffen, der die Offenheit von Handelspartnern ausnutzt, um politische, ökonomische und technologische Vorteile zu erlangen, und der von Mächten wie Russland kopiert wird. Eine Systemalternative zur liberalen Demokratie. Staats- und Parteichef Xi Jinping nennt sein Herrschaftsmodell stolz: Sozialismus mit chinesischen Merkmalen für eine neue Ära. 

Wirtschaft als Waffe

Die Europäer bekamen die Macht der Chinesen in der Pandemie zu spüren, als China die Lieferung von Masken und Schutzkleidung für eine Einflusskampagne nutzte. Ungleich härter traf es Japan, das schon zehn Jahre früher die Erfahrung machte, von China wegen eines außenpolitischen Disputs mit einem Lieferstopp für seltene Erden abgestraft zu werden.

Maskenproduktion in China

Die Europäer bekamen die Macht der Chinesen in der Pandemie zu spüren, als China die Lieferung von Masken und Schutzkleidung für eine Einflusskampagne nutzte.

(Foto: AP)

„In einigen Bereichen hat China bereits eine marktführende Stellung erreicht“, stellt die Bundesregierung in ihrer Chinastrategie fest. Die Staatsführung sei bestrebt, „wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten zu schaffen, um diese dann zur Durchsetzung politischer Ziele und Interessen zu nutzen“. 

Gleichzeitig arbeite Peking „mit Verweis auf Sicherheitsinteressen daran, sich selbst unabhängiger von ausländischen Beiträgen und Zulieferungen zu machen“. Zumindest dieses Ziel übernehmen Deutschland und Europa jetzt. Von einer sozialen Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen könnte man sprechen.

Annalena Baerbock ist inzwischen mit dem Reisebus des Auswärtigen Amts im französischen Grenzort Lauterbourg angekommen. Ein Auftritt mit ihrer Amtskollegin Catherine Colonna bildet nach dem Berufsschulbesuch den Schlusspunkt ihrer Sommerreise.

Baerbock erinnert an die Energiekrise, an Russlands Plan, Europa mit einem Erdgasentzug zu erpressen. „Gerade wir als Deutsche“, sagt sie, hätten trotz Warnungen der Nachbarstaaten lange nicht erkennen wollen, „wie verwundbar wir sind, wenn wir uns einseitig von autokratischen Gesellschaften abhängig machen“.

Derisking in der Praxis

Baerbock meint es ernst mit dem Derisking, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen auch. Brüssel hat den „Raw Materials Act“ vorgeschlagen, mit dem Europa neue Rohstoffpartnerschaften knüpfen, eigene Bodenschätze heben und das Recycling wertvoller Ressourcen verbessern will. 

Annalena Baerbock und Catherine Colonna

Colonna zufolge passt. Deutschlands Chinastrategie gut zu den Vorstellungen der EU und der französischen Regierung.

(Foto: IMAGO/photothek)

Der „Net Zero Industry Act“ wiederum soll die EU in die Lage versetzen, 40 Prozent ihres jährlichen Bedarfs an emissionsfreien Technologien wie Solarpaneele und Batterien selbst zu produzieren. 

Der „EU Chips Act“ schließlich ist schon in Kraft, ein Vertrag für eine Intel-Fabrik in Magdeburg schon unterzeichnet. Fast zehn Milliarden Euro lässt sich die Bundesregierung die Ansiedlung kosten.

Solche industriepolitischen Großvorhaben sollen Europa ökonomisch widerstandsfähiger machen, doch sie bleiben umstritten. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel rüttelt am Selbstverständnis der EU. Er stellt einen Bruch mit den Prinzipien eines regelbasierten Welthandels da, denen sich die Union bisher verpflichtet sah.

Über „Ursulas Gosplan“ lästern EU-Diplomaten – in Anlehnung an das zentrale Planungskomitee der Sowjets. In Berlin schimpft Oppositionsführer Friedrich Merz über „grüne Planwirtschaft“.

>> Lesen Sie hier: Subventionen für Intel-Werk Magdeburg sollen auf 9,9 Milliarden Euro steigen

Den Amerikanern fällt die Umstellung leichter. Die Regierung von Präsident Joe Biden hat mit den ökonomischen Überzeugungen gebrochen, die der US-Außen- und Wirtschaftspolitik seit Anfang der 1980er-Jahre zugrunde lagen. 

Das Geheimnis der Bidenomics

Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan hat einen „neuen Washingtoner Konsens“ ausgerufen, um im Konflikt mit China die Oberhand zu behalten. An die Stelle von Freihandel, Deregulierung und Ausgabendisziplin, dem ursprünglichen Washingtoner Konsens, ist eine interventionistische Politik getreten, die dem freien Markt Grenzen setzt, Unternehmensentscheidungen mit Subventionen lenkt und protektionistische Vorschriften nicht scheut. 

Die „Bidenomics“ setzen die EU noch weiter unter Druck. Mit dem „Inflation Reduction Act“, ihrem XXL-Subventionspaket, machen die Amerikaner nicht nur den Chinesen, sondern auch den Europäern Marktanteile streitig. „Big, green and mean“, so beschreibt der „Economist“ Bidens Amerika – groß, grün und gemein.

Im Gemeindehaus von Lauterbourg ist es heiß und stickig. Baerbock hat ihre Ausführungen beendet. Aber Frankreichs Außenministerin Colonna möchte noch einen Punkt anbringen. Deutschlands Chinastrategie passe gut zu den Vorstellungen der EU und der französischen Regierung, lobt sie. Aber: „Wir müssen unsere Souveränität auch gegenüber demokratischen Staaten wahren.“

Wer die französische Debatte kennt, weiß, wer damit gemeint ist: Amerika. In Paris versteht man das Derisking anders als in Berlin – als Auftrag, autonomer zu werden, um nicht zu sagen protektionistischer, und sich wirtschaftlich auch stärker von den USA abzugrenzen. Baerbock schweigt. Jetzt bloß keine Grundsatzdebatte, im Hof warten kühler Sekt und Elsasser Törtchen, gleich will sich die Ministerin in den Urlaub verabschieden. 

Doch der dissonante Schlussakkord der Sommertour macht die Dimension der Herausforderung deutlich, vor der Europa steht. International vollzieht sich der größte wirtschaftspolitische Umbruch seit der Reagan-Revolution vor 40 Jahren. Die Europäer entwickeln ein neues Wohlstandsmodell, ohne geklärt zu haben, was genau sie damit erreichen wollen.

Mehr: Comeback der Kommandowirtschaft? Von der Leyen richtet europäische Wirtschaftspolitik neu aus



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