Wien Falls es nach dem Willen von Viktor Orban geht, werden 2030 in Europa andere Machtverhältnisse herrschen als heute. „Wir Mitteleuropäer werden bis dann zu Nettozahlern der EU“, sagte Ungarns Ministerpräsident vor einem Jahr bei der traditionellen Sommerakademie der ungarischen Regierungspartei Fidesz in der rumänischen Kleinstadt Baile Tusnad.
Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus, als könnte der Provokateur dieses Ziel erreichen. Ideologisch hat Orban in rechtskonservativen Kreisen zwar einen Heldenstatus, wirtschaftlich aber steht kein europäisches Land so schlecht da wie Ungarn.
Ungarn hatte nach Zahlen der Notenbank im Februar 2023 die höchste Inflationsrate aller EU-Länder – 25,8 Prozent. Nun liegt sie bei etwa 19,9 Prozent. Die Teuerung wirkt sich auf den Lebensstandard der Ungarn aus. Im Durchschnitt erlitten sie demnach vom ersten Quartal 2022 bis zum ersten Quartal 2023 einen Reallohnverlust von 15,6 Prozent, den höchsten aller Länder der OECD.
Auch die Wirtschaftsaussichten sind laut Konjunkturprognostikern schlecht: Die Ökonomen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) etwa erwarten, dass die Wirtschaftsleistung (BIP) des Landes 2023 schrumpfen wird. Keinem anderen Land Mittel- und Südosteuropas stellen sie einen Rückgang des BIP in Aussicht.
Die Staaten dieser Region stehen in Konkurrenz zueinander: Jeder von ihnen strebt nach möglichst hohen Auslandsinvestitionen, etwa die Autohersteller, um rasch das Wohlstandsniveau Westeuropas zu erreichen. In diesem Wettlauf ist Ungarn jüngst zurückgefallen.
Wirtschaftsentwicklung in Ungarn ist kein Zufall
Ungarn zählt innerhalb der EU zu den kleineren Volkswirtschaften, doch Ökonomen weisen darauf hin, dass der Fall durchaus exemplarischen Wert hat. Ihrer Meinung nach zeigt die ökonomische Schwäche des Landes, wie wichtig verlässliche Regeln für die Wirtschaft sind und welchen Schaden autoritär regierende Politiker verursachen, wenn sie ihr Handeln zu sehr an ihrem Machterhalt ausrichten.
Für Wissenschaftler ist es kein Zufall, dass Ungarn ausgerechnet in diesem Jahr gleichzeitig unter einer hohen Inflation und einer schwachen Wirtschaftsentwicklung leidet. Im April 2022 haben in Ungarn Wahlen stattgefunden – und die wirken nach.
„Die wirtschaftlichen Probleme Ungarns beruhen teilweise auf den Wahlgeschenken von damals“, sagt Sandor Richter vom wiiw. Heute weiß man zwar: Die Opposition hatte kaum Chancen, Orban in Wahlen zu besiegen. Dessen Machtsystem ist gefestigt, und die Opposition hat auch bei vielen Orban-Kritikern einen schlechten Ruf.
Im Frühjahr 2022 war das jedoch nicht so offensichtlich wie heute. Orban war wohl der Wahlfavorit, siegessicher konnte er aber nicht sein. Fiskalisch öffnete der Ministerpräsident deshalb viele Möglichkeiten. Personen unter 25 Jahren mussten keine Steuern mehr bezahlen, Familien bekamen eine Steuerrückerstattung und Pensionierte eine 13. Monatsrente.
Das belebte die Nachfrage, kam allerdings zu einem schlechten Zeitpunkt. Viele Güter waren damals knapp, weil die internationale Logistik nach der Pandemie unter Engpässen litt. Die Folge war ein starker Preisauftrieb, der durch eine Dürre und eine schlechte Ernte in Ungarn verstärkt wurde.
Orban versuchte, die Inflation zu bekämpfen, indem er bei einigen stark nachgefragten Gütern Preisobergrenzen setzte, etwa bei Benzin, Mehl, Eiern oder Fleischprodukten.
Heute sind sich Ökonomen mehr oder wenig einig, dass diese Preisobergrenzen kontraproduktiv waren. Detailhändler und Produzenten hielten sich nämlich schadlos, indem sie die Preise von Gütern, bei denen es keine Obergrenze gab, verhältnismäßig stark erhöhten.
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Die Teuerungsrate bei den Nahrungsmitteln stieg in diesem Frühjahr laut ungarischer Zentralbank auf 46 Prozent. Die Ungarn sparten, wo sie nur konnten, und die Umsätze im Einzelhandel brachen ein. Der Rückgang lag im Mai bei 12,3
EU blockiert Finanzmittel
Orban ist also in der Klemme, zumal ihm die internationale Entwicklung auch nicht hilft. Ungarn gehört wie Tschechien und die Slowakei zum deutschen Industrie- und Autofabrikationscluster. In Deutschland jedoch ist die ökonomische Lage schlecht. Das zieht auch die Wirtschaft Mitteleuropas in Mitleidenschaft.
In Ungarn ist die Stimmung daher schlecht, besonders im Bausektor. „Die Auftragslage ist katastrophal“, sagt der Manager eines deutschen Pflastersteinherstellers. Zur misslichen Lage trägt auch bei, dass Orban auf Geld der EU verzichten muss. In den vergangenen Jahrzehnten hatte dieses maßgeblich zur Entwicklung des Landes beigetragen. Bis 2027 hätte Ungarn Anspruch auf 28 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbau- und dem Kohäsionsfonds.
Die EU blockiert die Finanzmittel jedoch. Sie bezweifelt unter anderem, dass es in Ungarn ausreichend Vorkehrungen gibt, damit die öffentlichen Gelder nicht versickern. Es existieren starke Hinweise darauf, dass Projekte, für die Ungarn EU-Mittel erhalten hatte, überteuert abgerechnet worden sind.
Das zusätzliche Geld soll in die Taschen von Geschäftsleuten geflossen sein, die Orban nahestehen. Ungarn wird gewisse Gelder von der EU erst erhalten, wenn die Regierung Fortschritte macht bei 27 gesetzten Zwischenzielen.
Orban scheint all das nicht zu bekümmern und provoziert weiter. Vor Kurzem fand in Baile Tusnad erneut die Sommerakademie von Fidesz statt. In einer sehr langen Rede hat Orban erneut nach allen Seiten ausgeteilt.
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Insbesondere wirtschaftlich setzte sich Orban wie schon 2022 hohe Ziele. Seine Absicht sei es, die Wirtschaftsleistung Ungarns bis 2030 im Vergleich zu heute zu verdoppeln. Ökonomen halten dies allerdings für reines Wunschdenken.
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