Düsseldorf Was Nutzer auf LinkedIn sehen, bestimmt der Algorithmus – doch inzwischen nicht mehr ausschließlich. Seit kurzem bietet die Plattform auch einen chronologischen Feed an. Beiträge werden so nach zeitlicher Reihenfolge angezeigt, und nicht danach, welche Beiträge Daten zufolge für User am interessantesten sein dürften.
Hintergrund für die zusätzliche Option ist das neue europäische Digitalgesetz, der Digital Services Act (DSA). Oder wie Matthias C. Kettemann, Rechtswissenschaftler an der Universität Innsbruck, es nennt: das neue „Grundgesetz für das Internet“.
Die EU-Verordnung gilt seit Ende August und beinhaltet eine Reihe Verpflichtungen für 19 besonders große Plattformen wie Google-Dienste, soziale Medien und Shoppingseiten. Damit sind die chronologischen Rankings nicht die einzige Neuerung für die User. Ein Überblick, wie die Menschen in Europa vom DSA profitieren – und wo aus Sicht von Fachleuten Nachholdbedarf besteht.
Die Algorithmen, die hinter dem klassischen Feed stecken und bestimmen, wie sich Inhalte verbreiten, stehen schon lange in der Kritik. Zu Recht, meint Kettemann: die Algorithmen erkennen nicht, welche Beiträge inhaltlich „gut“ sind, sondern nur, welche Inhalte die Leute lange dabei halten. Und das können dann eben auch Desinformationen, Hassrede oder Gewalt sein.
Solche Inhalte müssen die Plattformen laut DSA schneller löschen, umgekehrt müssen Nutzer solche Inhalte einfacher melden können.
Die Funktionsweise der Algorithmen war bisher ein gut gehütetes Geheimnis. Dass Plattformen diese Funktionsweisen jetzt in Teilen offenlegen müssen und Optionen wie den chronologischen Feed anbieten sorgt also für deutlich mehr Transparenz – zu Gunsten der Nutzer.
Welche Vorteile haben User durch die neuen Regeln nach dem DSA?
Nutzer können zunehmend selbst entscheiden, welche Inhalte sie auf Social Media sehen. Laut Kettemann bietet das neue Gesetz vor allem drei Vorteile. Erstens sei mit weniger Desinformationen zu rechnen. Vor allem während der Corona-Pandemie und während der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 wurden Fake News zu einem großen Problem.
Zweitens sei mit mehr Transparenz gegenüber den Nutzern zu rechnen, zum Beispiel wenn es darum geht, warum die Plattformen bestimmte Inhalte löschen, erklärt Kettemann.
Drittens würden Kinder und Jugendliche durch die Verordnung besser geschützt. Sie dürfen keine personenbezogene Werbung mehr erhalten. Darüber hinaus dürfen die Plattformen Werbung nicht mehr nach sensiblen Daten wie religiöse, sexuelle oder politische Ansichten ausrichten.
Welche Folgen hat es, wenn sich ein Unternehmen nicht an den DSA hält?
Verstoßen die Plattformen gegen die neuen Regeln, müssen sie mit hohen Geldstrafen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes rechnen. Allein Meta soll laut der FAZ daher ein Team von 1000 Leuten aufgestellt haben, um die Regelungen umzusetzen.
Auf Seiten der EU kontrolliert laut Kettemann ein Team aus 120 Personen die großen Plattformen. Zusätzlich muss jedes EU-Mitglied festlegen, wer die Regeln im eigenen Land überprüft.
In Deutschland ist in erster Linie die Bundesnetzagentur dafür verantwortlich. Für Medienrechtler Wolfgang Schulz von der Universität Hamburg ist das ein entscheidender Vorteil des DSA: In jedem Land können nun nationale Koordinatoren die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertreten.
Welche Schwachstellen hat die EU-Verordnung?
Der Digital Services Act regelt nicht nur Inhalte, sondern verpflichtet die Plattformen auch dazu, jedes Jahr ein sogenanntes Risikoassessment zu erstellen. Darin müssen die Diensteanbieter beurteilen, ob die Funktionsweise ihrer Plattform etwa negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit oder den Schutz von Minderjährigen hat.
Die Betreiber müssen außerdem erklären, wie sie gegen mögliche Risiken vorgehen. Schulz sieht hier großes Potential: „Im Idealfall entstehen so Plattformen, die die Rechte der Bürgerinnen und Bürger und die öffentlichen Interessen immer weitergehend berücksichtigen.“
Kettemann sieht in dieser Regel allerdings eine entscheidende Schwachstelle: die Unternehmen müssen diese Assessments nicht veröffentlichen.
Insgesamt sei es für eine Analyse aller Mängel noch etwas zu früh, meint Medienrechtler Schulz. Kritisch sieht er aber die Macht der EU-Kommission. Medien sollten, um Rechtsstaatlichkeit zu wahren, von staatsfernen Institutionen kontrolliert werden.
Aus Sicht der Meinungsfreiheit sieht er zudem ein Problem darin, dass die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden können, welche Inhalte legal oder illegal sind. Das gelte dann auch für fragwürdige Regeln wie etwa in Ungarn: Dort sind Informationen zu Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit nur eingeschränkt verfügbar, angeblich zum Schutz von Kindern.
Kettemann teilt diese Sorge nur eingeschränkt: „Bei einem Missbrauch entsprechender Kompetenzen können die nationalen Behörden anderer Mitgliedsstaaten hier ein Stoppschild aufstellen“. Außerdem erwartet er nicht, dass Länder wie Ungarn oder Polen in dieser Hinsicht besonders aktiv werden. Sie hätten genug andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ihre Gesetze zu ändern und Institutionen zu adaptieren.
Wie weit geht der Einfluss der neuen Regeln?
Trotz der Einschränkungen hat das neue Gesetz über digitale Dienste zweifellos weltweiten Vorbildcharakter, sagt Kettemann. Dies liege an dem „Brüssel-Effekt“, wie er erklärt: „Europäisches Digitalrecht hat weltweit Wirkung, das haben wir im Bereich Datenschutz sehr beeindruckend gesehen“.
Die EU-Kommission will mit dem Digital Services Act weltweit Maßstäbe setzen. Dabei ist das Ziel kein geringeres, als das Internet sicherer zu machen. „Was offline verboten ist, ist auch online verboten!“, fasst es Margrethe Vestager, die zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, zusammen.
Ob der DSA zum gewünschten Erfolg führt, bleibt abzuwarten. „Noch ist nicht ausgeschlossen, dass er vor allem viel Bürokratie und Arbeitsplätze für Juristinnen und Juristen schafft“, meint Schulz.
<< Den vollständigen Artikel: Digital Services Act: Online gelten neue Regeln – Was kann das „Internet-Grundgesetz“? >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.