Russland greift immer häufiger zivile Infrastruktur an.
Wien Vergangene Woche startete die russische Armee erneut einen Großangriff auf ukrainische Städte wie Kiew, Charkiw und Krywyj Rih. Die Raketen hatten besonders die Energieinfrastruktur des Landes als Ziel. Die Taktik ist bekannt: Seit dem 10. Oktober greift Russland in Wellen gezielt die zivile Infrastruktur an. Damit will Russland die Bevölkerung demoralisieren und in die Flucht treiben. Doch die Ukraine ist erstaunlich rasch in der Lage, Reparaturen vorzunehmen und die Versorgung mit Strom und Wasser halbwegs wieder in Gang zu setzen.
„Jeder neue Angriff schwächt das ukrainische Stromnetz weiter“, sagt der Infrastrukturspezialist Davor Bajs von der internationalen Organisation Energy Community in Wien. „Der Grad der Zerstörung nimmt laufend zu, daran ändern die Reparaturarbeiten nichts.“
Bajs befürchtet, dass Reparaturen eines Tages nicht mehr möglich sein werden und das Hochspannungsnetz zusammenbricht. „Kleine Schäden an ihm kann man reparieren, große nicht.“
Der Fachmann glaubt zudem, dass die von Russland angerichteten Schäden für die Ukraine noch lange eine große Belastung darstellen werden. „Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ginge, die Energieversorgung des Landes wäre noch jahrelang beeinträchtigt.“
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Die Energy Community ist eine Organisation der EU gemeinsam mit neun weiteren osteuropäischen Ländern. Ihr Zweck besteht darin, einen paneuropäischen Energiemarkt zu schaffen und zu regulieren. Aber mit der Eskalation des Ukrainekrieges am 24. Februar 2022 hat sich das Tagesgeschäft der Organisation verändert: Nun geht es primär darum, die Ukraine bei der Stromversorgung zu unterstützen.
Engpässe in Umspannwerken
Laut Bajs beschießt Russland gezielt Umspannwerke, denen bei der Stromversorgung eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Einschätzung deckt sich mit Aussagen von Vertretern der ukrainischen Elektrizitätswirtschaft.
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In Umspannwerken wird die Stromspannung reduziert oder erhöht. Der Strom verlässt ein Kraftwerk mit einer hohen Spannung, für den Betrieb der Kaffeemaschine oder des Computers muss diese aber schrittweise mithilfe von Transformatoren reduziert werden.
Gerade bei den Transformatoren steuert die Ukraine auf einen gefährlichen Engpass zu. „Die Vorlaufzeit bei der Produktion großer Geräte beträgt mindestens ein Jahr“, sagt Bajs. Die bedeutenden Hersteller fertigen Transformatoren nicht auf Vorrat, denn die Elektrizitätsversorger wissen in der Regel weit im Voraus, wann sie eine neue Maschine benötigen.
Die ukrainischen Energieversorger behalfen sich jüngst deshalb auch mit gebrauchten Transformatoren. Aber auch hier ist das Angebot knapp, weil die Hersteller die Geräte gemäß den Bedürfnissen des Kunden fertigen. Das beschränkt die Möglichkeiten der Weitergabe von einem Stromversorger zu einem anderen.
Das Zentrum von Kiew ist ohne Strom, nachdem wichtige zivile Infrastrukturen durch russische Raketenangriffe in der Ukraine getroffen wurden.
In diesen Tagen soll einer der drei baltischen Staaten einen passenden, gebrauchten Transformator an die Ukraine liefern. Die Logistik gestalte sich aber anspruchsvoll, heißt es.
Ein Atomunfall würde auch Westeuropa bedrohen
Als Infrastrukturspezialist ist Bajs über die Widerstandskraft der ukrainischen Stromversorgung erstaunt. „Wie kann ein System, das so große Schäden erlitten hat, bloß weiter funktionieren?“, fragt er rhetorisch. Darin sieht er auch ein Erbe der Sowjetunion. Dort und allgemein im Ostblock habe man auf die Redundanz der Stromversorgung viel Wert gelegt und entsprechend viel Geld in sie investiert.
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Groß war dabei auch die Bedeutung der Atomkraft. Die Nuklearanlagen der Ukraine bereiten Energiespezialisten allerdings weiterhin Sorgen. Vor dem 24. Februar stammten 50 Prozent des ukrainischen Stroms aus Atomkraft. Die riesige Anlage von Saporischschja mit ihren sechs Reaktoren ist mittlerweile vom Netz; nun sind noch drei Werke in Betrieb.
Atomkraftwerke benötigen Strom, um die Brennelemente zu kühlen. Fällt er aus, drohen diese zu überhitzen. Für diesen Notfall verfügen Atomkraftwerke über Dieselgeneratoren, die bis zu zehn Tage Überbrückung leisten. Danach muss wieder Strom für Kühlung sorgen.
Auch deshalb darf das Stromnetz der Ukraine keinesfalls zusammenbrechen – sonst drohe ein Atomunfall, sagen Experten. Und davon wäre auch Westeuropa betroffen.
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<< Den vollständigen Artikel: Ukraine-Krieg: Jeder russische Angriff schwächt das ukrainische Stromnetz weiter – da helfen auch die Reparaturen nichts >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.