Washington Das Herz der amerikanischen Demokratie, der US-Kongress, ist in Aufruhr: den zweiten Tag in Folge kämpft das Repräsentantenhaus, eine von zwei Kammern, um einen neuen Vorsitzenden. Was wie eine Formalie klingt, wächst sich in Washington zu einem Drama aus. Solange der sogenannte „Speaker of the House” nicht feststeht, kann das Repräsentantenhaus mit seinen 435 Abgeordneten nicht seine Arbeit aufnehmen.
Rein rechnerisch müssten die Republikaner den mächtigen Posten besetzen, den bislang die Demokratin Nancy Pelosi innehatte. Die Partei hatte bei den Zwischenwahlen im November die Mehrheit im Repräsentantenhaus geholt. Doch die Republikaner zerlegen sich über die Frage, wer ihr mächtiger Vorsitzender sein soll. Mit Abstand am meisten Rückhalt hat bislang der 57-jährige Kevin McCarthy aus Kalifornien, doch um die 20 Abgeordnete verweigern ihm Runde um Runde ihre Stimme – weit mehr als die vier Abweichler, die sich McCarthy leisten kann.
„Es ist ganz schön peinlich”, kommentierte US-Präsident Joe Biden. Das Chaos im Kongress betrifft mittelfristig auch ihn, denn ein dysfunktionales Repräsentantenhaus bedroht die gesamte US-Regierung.
Was hinter dem Showdown im Kongress steckt, wie es jetzt weitergeht – der Überblick.
1. Wie konnte es soweit kommen?
Bislang war McCarthy sogenannter Minderheitsführer im Repräsentantenhaus, also Vorsitzender der republikanischen Opposition in der Kammer. Acht Jahre lang arbeitete er darauf hin, zum Sprecher gewählt zu werden. Das dritthöchste Staatsamt in den USA birgt enorme Macht, zuletzt hatte es die Demokratin Nancy Pelosi inne. Sie konnte die Tagesordnung bestimmen und so entscheiden, welche Gesetze behandelt werden.
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Während Donald Trump im Weißen Haus saß, war McCarthy ein loyaler Partner des Präsidenten. Allerdings kritisierte er ihn nach dem Sturm fanatischer Trump-Anhänger auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Seine Gegner in der republikanischen Fraktion werfen ihm Opportunismus vor und mangelndes Rückgrat. Sie gehören überwiegend zum ultrakonservativen, Trump-nahen „Freedom Caucus” und halten McCarthy für zu „Establishment”.
McCarthy versucht, seinen Kritikern entgegenzukommen: Zum Beispiel stellt er die milliardenschweren USA-Hilfen für die Ukraine in Frage. Und er verspricht, die Biden-Regierung mit Untersuchungsausschüssen und Impeachment-Verfahren vor sich herzutreiben. Doch das reicht dem Rechtsaußen-Flügel nicht. Seit Dienstagmittag lassen sie McCarthy Abstimmung um Abstimmung durchfallen. Die Zahl der Abweichler wurde zuletzt nicht weniger, sondern sie wuchs sogar noch an. Etwas Vergleichbares gab es im Repräsentantenhaus seit fast hundert Jahren nicht, die Arbeit der Abgeordneten liegt vorerst lahm.
2. Was passiert, wenn es keine Einigung gibt?
Theoretisch darf das Repräsentantenhaus unendlich lange über einen Speaker abstimmen, die US-Verfassung sieht nur eine vage Anleitung vor. Dass McCarthy aufgibt, dafür gibt es keine Anzeichen. Die Demokraten haben einen eigenen Kandidaten aufgestellt, den jungen, schwarzen Abgeordneten Hakeem Jeffreys aus New York. Doch eine einfache Mehrheit genügt nicht, der Sprecher muss gleichzeitig die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen. Sind alle Abgeordneten anwesend, ist die Hürde mindestens 218 Stimmen – weder McCarthy noch Jeffreys erreichen das aktuell. So lange es keinen Sprecher gibt, ist die Kammer nicht arbeitsfähig.
Am Mittwoch wollte McCarthy mit seinen Kritikern erneut in Verhandlungen gehen, auch Donald Trump unterstützte McCarthy über seine Plattform Truth Social. Andere mögliche Kandidaten scheinen bislang nicht mehrheitsfähig. Im Raum schwebten die Namen von Byron Donalds, einem schwarzen Abgeordneten aus Florida, oder dem Wahlleugner Jim Jordan, der den mächtigen Justizausschuss übernehmen soll.
Steve Scalise könnte ein Konsenskandidat sein, der seit fast 15 Jahren im Kongress sitzt. 2017 wurde er während eines Baseballspiels von einem Anti-Trump-Aktivisten angeschossen und schwer verletzt. Bislang unterstützt Scalise aber McCarthy.
Auf dem Capitol Hill kursiert sogar das Szenario eines Deals mit den Demokraten: Sie sollen, so fordern manche Abgeordnete, einen Republikaner mitwählen und dafür einige Zugeständnisse bekommen. Ein sogenannter „Unity Speaker” wäre sehr ungewöhnlich. Allein dass solche Lösungen diskutiert werden, zeigt: Die knappen Mehrheitsverhältnisse in den USA stellen das Zweiparteiensystem in den USA extrem auf die Probe.
3. „Nicht mein Problem”, sagt Präsident Biden. Stimmt das?
Rein strategisch kommt das Theater der Republikaner den US-Demokraten nicht ungelegen. Je zerstrittener die Republikaner wirken, desto stabiler wirken die Demokraten – das ist das Kalkül von US-Präsident Joe Biden, der sich womöglich auf eine zweite Amtszeit bewerben will. Tatsächlich zeigt der Richtungskampf der Republikaner gerade seine volle Wirkung im Kongress.
Der Populist und Nationalist Trump hatte seine Partei über Jahre fest im Griff und sie radikalisiert. Dann aber verlor er die Präsidentschaftswahlen 2020 und die Republikaner schnitten bei den Midterm-Wahlen 2022 für sie enttäuschend ab. Knapp zwei Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen sind sie in einer tiefen Krise.
„Ich finde es nur ein bisschen peinlich, dass es so lange dauert”, kommentierte Biden das Chaos im Kongress. „Der Rest der Welt schaut zu.” Aber das sei „nicht mein Problem”, betonte er. Ein instabiles Repräsentantenhaus könnte aber schnell zu seinem Problem werden. Schon die letzten Verhandlungen zum 1,7-Billionen-Haushalt waren nur mit Ach und Krach abgeschlossen worden. Und die jährliche Anhebung der Schuldengrenze steht im Herbst 2023 wieder an, auch darüber entscheidet der Kongress.
Heben die USA ihre Schuldengrenze nicht an, kann die Wirtschaftsmacht ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, was die Wirtschaft weltweit destabilisiert. Wie geschlossen oder zerstritten die Fraktionen im Kongress auftreten, hat also direkte Folgen für die Verlässlichkeit der USA.
Mehr: Ukraine, China, Iran – Das kann die Welt vom neuen US-Kongress erwarten
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