Thomas Kuhn beschreibt in seiner klassischen Studie über Revolutionen im wissenschaftlichen Denken, wie aus Krisenzeiten typischerweise neue Paradigmen hervorgehen. Denken Sie an die Physik des späten 19. Jahrhunderts vor Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Oder die ptolemäische Astronomie kurz vor Kopernikus. In solchen Perioden treten immer größere Diskrepanzen zwischen empirischen Beobachtungen und gängigen Erklärungen auf. Neuartiges Denken wird von einer jüngeren Generation von Forschern vorangetrieben, aber wie Kuhn es ausdrückt, normalerweise „erst nach einem ausgeprägten Scheitern“ bestehender Denkansätze.1)
In dieser Hinsicht sind Paradigmenwechsel unter Marktteilnehmern auffallend ähnlich. Wie Wissenschaftler neigen auch Investoren dazu, gemeinsame Annahmen zu treffen, die über lange Zeiträume weitgehend unbestritten bleiben. Auf diese Weise können sich die Marktteilnehmer auf normale, tägliche Aktivitäten konzentrieren, wie zum Beispiel den Aufbau von Portfolios, die den vorherrschenden Paradigmen entsprechen. Gerade das aber erschwert die Bewältigung neuartiger Krisen.
Um zu sehen, warum, werfen wir einen Blick auf unseren „Chart der Woche“. Er zeigt diesmal schlicht die Renditen 10-jähriger deutscher Staatsanleihen, bekannt als Bundesanleihen, über die vergangenen 40 Jahre. Stellen Sie sich nun vor, Sie wären ein erfahrener deutscher Anleiheninvestor um das Jahr 2010 herum. Wie wahrscheinlich wäre es Ihnen erschienen, dass die Renditen 10-jähriger Bundesanleihen unter zwei Prozent fallen und für längere Zeit so niedrig bleiben könnten? Die Daten bis 2010 hätten auf eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit hingewiesen. Ebenso die konzeptionellen Werkzeuge, die Ihnen lange gute Dienste geleistet hatten – etwa wie viel Entschädigung Anleger in Bundesanleihen normalerweise für die unsicheren Pfade der zukünftigen Inflation, der deutschen Fiskalpolitik und der globalen Zinssätze in der Vergangenheit gefordert hatten.
Nach ein paar Jahren unterdurchschnittlicher Erträge Ihrer Portfolios wären Sie wahrscheinlich durch jemand jüngeren ersetzt, der sich mit dem aufkommenden Paradigma von „Niedrigzinsen-soweit-das-Auge-reicht“ wohler gefühlt hat. Das Jahr 2022 hätten Sie vielleicht damit verbracht, während Ihres Ruhestands darüber zu kichern, wie Ihre Nachfolger so kurzsichtig hätten sein können, um das katastrophale Jahr für festverzinsliche Renditen nicht kommen zu sehen. Und dass bei nominellen Bundrenditen von immer noch gerade einmal 2,4 Prozent eine Inflationsrate von 9,6 Prozent (nach der harmonisierten EU Methode) als positive Überraschung für die heutigen Marktteilnehmer gelten soll, scheint Ihnen bis heute wenig schlüssig.2)
Nun, wir bleiben trotz allem bei unserem strategischen Ziel von 2,4 Prozent auf 10-jährige Bundesanleihen fürs Jahresende 2023, zumindest vorerst. Sicherlich bestehen Risiken, da zudem ein höheres Bund-Emissionsvolumen bevorsteht und die Europäische Zentralbank (EZB) ab März die Reinvestitionen im Rahmen ihres Programms zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) reduzieren wird. Abgesehen von bestimmten Nachrichtenereignissen scheint es jedoch angebracht, auch zu diesem Jahresauftakt die durchaus hohe Wahrscheinlichkeit anzuerkennen, dass wir uns immer noch mitten in einer Reihe von großen Paradigmenwechseln befinden.3) Noch ist es sehr früh zu sagen, was am Ende als neue gemeinsame Sicht dabei herauskommen wird. Und obwohl wir nicht unbedingt mit allen Gedanken der Marktveteranen von 2010 übereinstimmen, dürfte 2023 durchaus hilfreich sein, gelegentlich ein Problem mit Paradigmen aus der Zeit vor 2010 zu betrachten, um eine Überinterpretation der Lehren der letzten 12 Jahre zu vermeiden. In diesem Sinne, ein frohes neues Jahr!
1) Kuhn, T. (1970, 2nd ed.), The Structure of Scientific Revolutions, University of Chicago Press, S. 74
2) German inflation drops more than expected to 9.6% | Financial Times (ft.com)
3) Inflationary paradigm shifts (dws.com)
www.fixed-income.org
Grafik: aus langfristiger Sicht bleiben die Renditen 10-jähriger Bundesanleihen auffallend niedrig © DWS
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