Tokio Erst schoss Nordkorea im Oktober eine Mittelstreckenrakete über Japan hinweg. Dann testete Führer Kim Jong Un zwei Langstrecken-Marschflugkörper, die nach nordkoreanischen Angaben atomar bestückt werden können. Der Sicherheitsanalyst Joseph Cirincione, Mitglied des amerikanischen Council on Foreign Relations, ist alarmiert.
„Nordkorea ist entschlossen, eine moderne und vielseitige nukleare Abschreckungsmacht aufzubauen“, sagt er. „Kims Raketentechnik ist Weltklasse und die Atomwaffen sind gut genug.“ Zu diesen fortschrittlichen Waffen gehöre die kürzlich getestete Mittelstreckenrakete Hwasong-12.
Experten rechnen schon seit Monaten damit, dass Nordkorea seine technologischen Fähigkeiten mit einem siebten Atomtest unter Beweis stellen könnte. Die Zeit nach den Zwischenwahlen in den USA im November gilt als ein möglicher Zeitraum, um die politische Wirkung zu vergrößern.
Ein weiterer Atomtest könnte eine erneute Krise auf der koreanischen Halbinsel heraufbeschwören. Nach dem sechsten Test im Jahr 2017 eskalierte die Lage rasch an den Rand eines bewaffneten Konflikts.
Cirincione erklärt, wie groß die Gefahr einer nuklearen Aufrüstung von Südkorea und Japan ist, was die Ukraine damit zu tun hat und wie der Westen auf die wachsende Bedrohung reagieren kann.
Wie groß ist das Risiko eines erneuten Atomtests?
Der Analyst rechnet damit, dass Nordkorea mindesten eine Atombombe und später weitere Raketen testen wird. „Ich bin normalerweise ein Optimist, aber die Aussichten sind düster“, sagt er. „Im Moment gibt es keine Möglichkeit, Nordkorea aufzuhalten.“ Die militärischen Fähigkeiten des Landes würden immer vielfältiger. „Die Lage wird sich verschlimmern und gefährlicher werden.“
Ein wichtiger Grund sind nach seiner Einschätzung die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China sowie der Schulterschluss der Volksrepublik mit Russland. Nordkoreas Schutzmächte China und Russland seien daher anders als 2017 nicht bereit, weitere Sanktionen der Vereinten Nationen mitzutragen.
Welche Waffen könnte Nordkorea testen?
Offen ist aktuell, wie zuverlässig die nordkoreanischen Langstreckenraketen sind. Kim könne zwar schon einigermaßen sicher sein, Ziele in den USA zu erreichen, meint Cirincione. Dennoch brauche er weitere Tests.
Viele Beobachter rechnen damit, dass Nordkorea auf taktische Atomwaffen setzen wird. Diese haben eine relativ kleine Sprengkraft und werden auf dem Gefechtsfeld eingesetzt. Die Gefahr ist für Cirincione real. „Südkorea hat Grund, sehr besorgt zu sein.“
Das diktatorisch regierte Land könne zudem erstmals eine Wasserstoffbombe testen. „Nordkorea behauptet schon länger, dass sie Wasserstoffbomben bauen können, aber viele Experten bezweifeln das“, sagt Cirincione.
Die bisher getesteten Plutoniumbomben, die auf Kernspaltung beruhten, erreichten maximal eine Sprengkraft von 40 bis 50 Kilotonnen. Wenn Nordkorea eine höhere Sprengkraft von mehr als 100 Kilotonnen erreichen wolle, müsse das Land Wasserstoffbomben entwickeln, die auf Kernfusion beruhen. Die traditionellen Atommächte hätten in ihren Arsenalen Bomben mit 150 bis 400 Kilotonnen. „Das ist genau das, was Nordkorea will, dann muss die Rakete nicht mehr sehr genau treffen.“
Worum geht es Nordkoreas Führer Kim Jong Un?
Laut Cirincione verfolgt Nordkorea drei Ziele. Erstens entwickele das Land Atomwaffen und -raketen nicht als Signal, sondern als richtiges militärisches Programm. Zweitens wolle die Führung international nicht ignoriert werden. Drittens gehe es darum, Druck und Verhandlungsmacht aufzubauen, wenn aus nordkoreanischer Sicht die Zeit reif für Gespräche ist.
Jüngst hatte Nordkorea einen atomaren Erstschlag per Gesetz für zulässig erklärt. Cirincione sieht für einen solchen Schritt aber keine Anzeichen. Kim sei „weder verrückt noch ein apokalyptischer Führer“. Für ihn gehe es in erster Linie um Abschreckung.
Warum können die Tests diplomatisch kaum aufgehalten werden?
Die USA betonen immer wieder, dass Nordkorea derzeit auf Gesprächsangebote nicht reagiere. Der Grund ist für Cirincione allerdings auch das Scheitern der amerikanischen Nordkorea-Politik. US-Präsident George W. Bush habe ein Rahmenabkommen von 1994 zunichtegemacht, das Nordkoreas Programm habe bremsen können. „Aber es wurde durch nichts ersetzt.“
Seither schwankte die US-Politik relativ planlos zwischen der strategischen Geduld von Barack Obama und der Strategie des maximalen Drucks und anschließender Gipfeldiplomatie von Donald Trump. Präsident Joe Biden bewege sich zwischen den Polen, meint Cirincione.
Warum ist der Ukrainekrieg für die Zukunft Ostasiens wichtig?
Eine der größten Sorgen ist ein nuklearer Dominoeffekt in einer Region. So wird in Südkorea immer offener über eine atomare Bewaffnung geredet. Auch Japan könnte nuklear aufrüsten, meint Cirincione.
Wie sich die ostasiatischen Staaten bei Atomfragen verhalten, hängt von ihrem Vertrauen in die verbündeten USA ab, sagt Cirincione. Hier ist der Ukrainekrieg ein wichtiger Faktor. „Wenn die Ukraine sich durchsetzt, wird Russland geschwächt“, erklärt Cirincione. Dies würde sich auch auf die Position Chinas auswirken, da das Land trotz des Krieges nicht von seiner strategischen Partnerschaft mit Moskau abgerückt ist.
Gestärkt aussehen würden hingegen die USA als Verbündete der Ukrainer. „Niemand würde mit den USA brechen wollen, zum Beispiel indem sie sich atomar bewaffnen“, sagt der Analyst. Gewinnt Russland den Krieg, geht die Rechnung allerdings umgekehrt aus.
Eine weitere Variable ist der Ausgang der Wahlen in den USA im November. Gelänge es den Republikanern, sowohl im Unterhaus wie auch dem Senat die Mehrheit zu übernehmen, könnte es zu einer Paralyse der USA oder der von der Innenpolitik geprägten außenpolitischen Entscheidungen des US-Kongresses kommen. Eine zweite Amtszeit von Donald Trump ist eine andere Möglichkeit, die die US-Verbündeten ängstigt.
Was kann der Westen tun?
Einige westliche Sicherheitsexperten argumentieren inzwischen für eine Anerkennung Nordkoreas als Atomwaffenstaat. Cirincione glaubt nicht, dass die US-Regierung dafür bereit ist – aus Sorge davor, dass sich Atomwaffen weiter verbreiten könnten. Dies spreche dafür, „das langfristige Ziel der Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel beizubehalten und im Gegenzug zu versuchen, einen schrittweisen Plan zur Begrenzung des Nuklearprogramms zu entwickeln“.
Als Beispiele für diese Politik sieht der Sicherheitsanalyst die Behandlung der faktischen Atomstaaten Israel, Indien und Pakistan. Diese werden von der USA zwar nicht offiziell im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages als Atommächte anerkannt. Trotzdem wird mit ihnen verhandelt.
Cirincione hält es zudem für eine Möglichkeit, zunächst wie vom ehemaligen US-Präsidenten Trump angeregt einen Friedensvertrag zu verhandeln und dann schrittweise Maßnahmen für eine Denuklearisierung einzuleiten. Eine garantierte Abrüstung gebe es auch bei dieser Option nicht. Cirincione geht es vor allem darum, Nordkoreas Programme wenigstens zu bremsen.
Versorgt Nordkorea Russland für seinen Krieg gegen die Ukraine mit Waffen?
Es gibt Berichte der US-amerikanischen Geheimdienste, nach denen Nordkorea Artilleriegranaten und Raketen an Russland verkauft. Die Lieferungen könnten einen dringenden Bedarf decken: Die vom Westen verhängten Exportkontrollen und Sanktionen haben die Möglichkeiten Russlands, selbst seine wichtigsten militärischen Güter zu produzieren, stark eingeschränkt.
Im Gegenzug hofft Nordkorea, mehr russisches Öl einführen zu können, Wirtschaftshilfe zu erhalten und die enge Partnerschaft, die es früher mit Russland hatte, wiederzubeleben. Dies spiegelt sich in der neuen Formulierung wider, mit der Pjöngjang seine Beziehungen zu Moskau beschreibt: eine „taktische und strategische Zusammenarbeit“. Cirincione sieht allerdings keine Anzeichen dafür, dass die nordkoreanische Hilfe weiter reicht als eventuelle Waffenlieferungen.
Mehr: Koreas New Deal zeigt, wie Staat und Konzerne Zukunftsbranchen besetzen wollen
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