Frankfurt Alles soll so sein wie vor der Pandemie. Das Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) im Schweizer Skiort Davos findet wieder im Januar statt, so wie es lange Jahre Tradition hat.
Und doch hat sich die Welt grundlegend verändert. WEF-Präsident Borge Brende empfängt ab diesem Montag rund 2700 Staatschefs, Regierungsmitglieder, CEOs und Vorstände aus aller Welt, während der Krieg in der Ukraine weiter anhält und die Sorgen vor einer globalen Rezession deutlich gestiegen sind.
Vor diesem tristen Hintergrund gibt sich Brende erstaunlich zuversichtlich – vor allem dank der Europäischen Union. „Europa hat sich wieder zusammengerauft und Stärke bewiesen“, sagte er dem Handelsblatt.
Herr Brende, der Krieg in der Ukraine tobt weiter, die Energiekrise ist noch lange nicht gelöst, wir stehen möglicherweise vor einer globalen Rezession. Was kann das Weltwirtschaftsforum unter diesen Umständen leisten?
Der G20-Gipfel in Bali hat gezeigt, dass es immer noch Bereiche gibt, in denen eine Zusammenarbeit möglich ist. In Bali haben sich die USA und China darauf geeinigt, erneut einen Klimadialog zu führen. Es gibt also in den verschiedenen Bereichen Möglichkeiten, Brücken zu bauen.
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Welche Bereiche stehen in Davos im Fokus?
Handel und Investitionen etwa, die eine weitere wirtschaftliche Fragmentierung verhindern können. Auch wird es um die Frage gehen, wie ein weltweiter Wachstumspakt aussehen könnte, um eine globale Rezession zu bekämpfen.
Das ist ein schwieriges Thema. Schließlich liegen die Inflation und die Leitzinsen deutlich höher als zur Finanzkrise 2008, und der Spielraum der Fiskalpolitik ist angesichts der hohen Schulden in vielen Ländern sehr begrenzt.
Deshalb geht es jetzt darum, sich auf ein stärkeres angebotsseitiges Denken zu einigen. Also: sicherstellen, dass wir beim Handel und bei den Investitionen wieder in Schwung kommen. Und dass der Protektionismus nicht weiter zunimmt. Es ist wichtig, gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Nationen aufrechtzuerhalten. Auch baucht es dringend weitere Investitionen aller Art wie in Infrastruktur, Forschung und Bildung. Wir müssen auch die Widerstandsfähigkeit stärken – machen wir uns nichts vor: Die nächste Pandemie kommt bestimmt.
Schwingt da beim Thema Protektionismus implizit eine Kritik an der US-Regierung mit, die mit dem Inflation Reduction Act sehr gezielt die eigene Industrie fördert?
Man könnte argumentieren, dass es auch von der Europäischen Union (EU) Maßnahmen gibt, selbst wenn das kleinere Beträge sind, etwa bei der Förderung von Halbleitern und erneuerbaren Energien. Aber es ist nicht die Aufgabe des Weltwirtschaftsforums, konkret ergriffene Fördermaßnahmen zu bewerten. Grundsätzlich aber ist es wichtig, dass gleiche Wettbewerbsbedingungen gewahrt bleiben und die Transparenz dabei nicht verloren geht.
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Denn wenn es nur darum geht, dass es einem Nachbarstaat schlechter geht als einem selbst, dann wird diese zunehmende Fragmentierung auch zu weniger Wachstum und Wohlstand führen.
Lässt sich die Deglobalisierung, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, wieder zurückdrehen?
Ich finde, wir sollten das Große und Ganze betrachten. Von den protektionistischen Maßnahmen, in Bezug auf sensible Technologien, sind vielleicht zehn Prozent der globalen Wirtschaft betroffen. Die restlichen 90 Prozent sollten und können weiterhin Handel treiben. Und wissen Sie, die letzten drei Jahrzehnte haben uns gezeigt, dass Globalisierung viele gute Seiten hatte. Noch nie gab es so wenige Menschen, die in extremer Armut leben, zum Beispiel.
Wobei viele Konzerne längst damit begonnen haben, ihre Lieferketten umzulegen, um besser auf mögliche Produktionsausfälle reagieren zu können.
Das ist auch notwendig. Wir sehen die Verschiebung von „just in time“ hin zu „just in case“. Trotzdem sollten wir aufpassen, dass das Pendel nicht zu weit in die andere Richtung schwingt. Nur noch „Friendshoring“ zu betreiben, wäre der falsche Weg.
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Sehen wir einen neuen kalten Krieg?
Ich glaube nicht, dass sich die Analogie des Kalten Krieges so gut eignet, um die aktuelle Situation zu beschreiben. Aber es ist definitiv eine sehr komplexe Situation. Ich würde sagen, dass die Welt zwischen mehreren möglichen Ordnungen steht. Wir wissen nicht, auf welche Ordnung wir genau zusteuern. Aber ich denke, es ist eine eher multipolare Welt. Es kann verschiedene Gravitationszentren geben, wie Peking, Brüssel, Pretoria, Neu-Delhi.
Und der Wettbewerb zwischen den Staaten wird härter werden und vor allem auf neuen Technologien basieren. Aber es muss möglich sein, Wege zu finden, um weiterhin gemeinsam an globalen Herausforderungen zu arbeiten. Kein Staat kann zum Beispiel den Klimawandel oder eine Pandemie alleine angehen.
Im vergangenen Jahr waren Sie noch sehr pessimistisch, auch mit Blick auf die Energiekrise in Europa. Wie sehen Sie die Lage heute?
Ich bin jetzt optimistischer als noch vor ein paar Monaten. Ich halte es nicht mehr für so wahrscheinlich, dass Europa in eine Rezession gerät. Europa hat sich wieder zusammengerauft und Stärke bewiesen. Ich sehe Europa in vielerlei Hinsicht als Comeback-Kid. Die Industrieproduktion in Deutschland ist gestiegen. Die Gaspreise sinken wieder.
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Das ist kein Grund, sich zurückzulehnen. Schon gar nicht Deutschland, das ja eine sehr starke industrielle Basis hat. Doch insgesamt kommt Europa bislang besser durch die Krise, als ich zunächst angenommen hatte. Die EU macht gemeinsam mit den USA 45 Prozent des Welthandels aus. Umso wichtiger ist es, dass sich beide Seiten auf Augenhöhe begegnen. Die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai und die Vertreter der EU werden in Davos einiges zu besprechen haben.
Wird Europa die Energiekrise meistern?
Ich bin moderat optimistisch und hoffe, dass die Krise am Ende ein unerwarteter Segen sein wird und die Umstellung hin zu erneuerbaren Energien erheblich beschleunigt.
Wobei auch dort ein Lieferkettenproblem besteht. Seltene Erden, die für E-Autos und Windenergie und viele andere Dinge gebraucht werden, werden überwiegend in China geschürft.
Das ist richtig. Auch hier muss es bei der Beschaffung und vielleicht auch bei der Verwendung von alternativen Materialien einen Durchbruch geben – ganz zu Schweigen vom Konzept der Kreislaufwirtschaft. Vieles kann recycelt und wiederverwendet werden. Die Lage ist ähnlich wie Anfang der 70er-Jahre. Damals, in der Ölkrise, mussten die deutschen Autohersteller Wege finden, Fahrzeuge effizienter zu machen. Auch das ist gelungen.
Herr Brende, vielen Dank für das Interview.
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<< Den vollständigen Artikel: Interview: WEF-Präsident Borge Brende: „Ich sehe Europa als Comeback-Kid“ >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.