Riga Eine Packung Barilla-Nudeln, 500 Gramm, können in Lettlands Hauptstadt Riga je nach Supermarkt gerade über vier Euro kosten. Ein Liter Vollmilch ist für 1,80 Euro zu haben, ein Päckchen Butter für 2,40 Euro. Die Preise sind so hoch wie in Deutschland, manchmal sogar höher. Und das, obwohl die Durchschnittsgehälter weit darunter liegen.
Langsam sinken die Inflationsraten innerhalb der Euro-Zone zwar wieder. Doch in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen geht die Teuerung vielen Menschen mittlerweile an die wirtschaftliche Substanz. Auch in Polen und Ungarn ächzen die Menschen zunehmend unter den massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten.
Im vergangenen Herbst wurde bereits deutlich, dass immer mehr Esten ihr Erspartes nutzen, um die Inflation auszugleichen. In Lettland verschuldeten sich die Privathaushalte tiefer, um ihre alltäglichen Rechnungen noch bezahlen zu können. Auch in Litauen, wo die Lebensmittelpreise 2022 um 36 Prozent stiegen, nahmen Konsumenten deutlich mehr Kredite in Anspruch.
Die baltischen Staaten verzeichnen besonders hohe Inflationsraten. Die Ursachen: Energie- und Lebensmittelkosten, die als Haupttreiber der Inflation gelten, machen grundsätzlich einen größeren Anteil der Ausgaben aus. Außerdem trugen im vergangenen Jahr tagesaktuelle Energie-Einkäufe auf dem Spotmarkt ihren Teil zur Entwicklung bei, während viele Unternehmen im Rest der EU auf langfristigere Verträge setzten.
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Bei vergleichsweise niedrigeren Einkommen fällt die Teuerung dabei besonders ins Gewicht. In Lettland etwa beträgt das verfügbare Nettoeinkommen pro Kopf nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 19.783 Dollar jährlich – das ist weit weniger als der Durchschnitt der in der OECD vertretenen Industriestaaten (30.490 Dollar). Schon seit Beginn des vergangenen Jahres steigen die Verbraucherpreise im Land kontinuierlich.
23,1 Prozent: Ungarn hat die höchste Inflation in Europa
Doch nicht nur dort ist die Inflationsrate (21,7 Prozent im vergangenen November) hoch: Laut aktuellen Eurostat-Daten lag die Rate in Estland und Litauen bei 21,4. Angeführt wird die Liste mittlerweile aber von Ungarn mit 23,1 Prozent, auf den Plätzen fünf und sechs folgen Tschechien und Polen mit 16,1 und 15,1 Prozent. Deutschland liegt mit 11,3 Prozent im Mittelfeld, Spanien, Frankreich und Malta mit knapp sieben Prozent am unteren Ende.
Experten halten die weite Spanne der Inflationsentwicklung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten für problematisch. So schreibt etwa ein Team des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, die Teuerung im Euro-Raum habe sich 2022 auf ein „historisches Niveau“ beschleunigt, wobei die Inflationsstreuung zwischen den Mitgliedstaaten „stark zugenommen“ habe.
Das könne zu einer „unerwünschten Divergenz der Wachstumspfade“ führen, so die Forscher. Wenn die Unterschiede „erheblich und anhaltend sind“, könnte die Entwicklung außerdem das „reibungslose Funktionieren der Währungsunion“ beeinträchtigen.
Eine hohe Inflation berge das Risiko einer nicht mehr zu kontrollierenden Preis- und Lohndynamik, während niedrige Inflationsraten die öffentlichen Finanzen gefährdeten und möglicherweise die Wirtschaft schwächten.
>> Lesen Sie dazu auch: Inflation in Euro-Zone sinkt stärker als erwartet auf 9,2 Prozent
Ersteres bereitet derzeit besonders den baltischen Staaten Sorgen, und sie sehen die Europäische Zentralbank (EZB) in der Pflicht. So erklärte beispielsweise Lettlands Zentralbankchef Martins Kazaks kürzlich, man erwarte eine kurze Rezession, die aber nicht ausreichen dürfte, die Preiserhöhungen einzudämmen.
„Wendepunkt langsam erreicht“
Kasaks fordert eine strengere Geldpolitik von den Währungshütern. „Die Zinssätze müssten viel stärker angehoben werden, um das mittelfristige Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen.“ Das ist ein Vorwurf, der sich direkt an EZB-Chefin Christine Lagarde richtet. Auch Litauens Präsident Gitanas Nauseda bemängelte jüngst, sein Land habe keine Instrumente, um die Inflation zu bekämpfen. In Litauen gab zuletzt ein Drittel der Einwohner an, kein Geld mehr zurücklegen zu können.
Katharina Koenz, Ökonomin beim Thinktank Oxford Economics, weist darauf hin, dass ökonomisch stärkere Staaten grundsätzlich mehr Spielraum haben, bei der Inflation gegenzusteuern. „Die größeren Staaten in der Euro-Zone haben einfach stärker interveniert“, etwa Deutschland und Frankreich. In den baltischen Staaten hingegen sei die Größe der Fiskalpakete deutlich geringer.
In Ungarn und Polen, die nicht zur Euro-Zone gehören, ist der Spielraum der nationalen Zentralbanken größer. Commerzbank-Analyst Tatha Ghose sieht in Ungarn den Höchststand überschritten.
Ökonomin Koenz sieht in der großen Diskrepanz zwischen den Ländern „natürlich keinen Idealzustand“. Trotzdem ist sie vorsichtig optimistisch: „Es scheint, als wäre der Wendepunkt langsam erreicht.“ Bei Öl- und Gaspreisen sei schon eine Besserung am Weltmarkt im Vergleich zu den Spitzenwerten im Sommer zu erkennen.
Ihren Berechnungen zufolge dürfte die Inflation ab der zweiten Jahreshälfte „spürbar zurückgehen“, wodurch sich die Lücke „deutlich verkleinern“ dürfte. Bis 2024 sollten Lettland und Litauen dann wieder im EZB-Rahmen liegen, Estland „spätestens bis 2025“.
Für viele Privathaushalte ist das aktuell aber wenig tröstlich, an eine schnelle Besserung glauben im Baltikum nur wenige. Lettlands Zentralbankchef Kazaks beispielsweise sagte kürzlich der „Financial Times“, er glaube, dass der Anstieg der Inflation in der Euro-Zone „kein vorübergehender Schock“ sei. Es handele sich vielmehr um „eine dauerhafte Veränderung, die strukturelle Lösungen erfordert“ – einschließlich einer ehrgeizigen EU-Energiestrategie.
Mehr: Massive Inflation, starke Lira – Türkische Exporteure geraten in Not
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