Berlin Sie arbeiten beispielsweise für Bolt, Uber, Gorillas, Getir oder andere Lieferdienste – Beschäftigte in der Plattformökonomie. Oft firmieren sie dabei als Selbstständige, auch wenn große Teile ihres Einkommens aus Aufträgen stammen, die über die jeweiligen Plattformen vermittelt werden.
Die Rechte und die Absicherung dieser Beschäftigten sollen künftig gestärkt werden. Das Europaparlament will durchsetzen, dass die Beweislast, ob jemand wirklich als Selbstständiger oder nicht doch als Arbeitnehmer tätig ist, künftig bei den Plattformen liegt. Dafür wird ein Kriterienkatalog definiert.
Einen entsprechenden Vorschlag haben die Europaparlamentarier am Donnerstag verabschiedet. Er geht in Teilen deutlich über den Verordnungsentwurf hinaus, den die EU- Kommission im Dezember 2021 vorgelegt hatte. Nun muss noch der Rat der EU-Staaten eine einheitliche Position finden, bevor die Verhandlungen mit dem Europaparlament aufgenommen werden können.
Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Yasmin Fahimi, sprach nach dem Votum der EU-Abgeordneten von einer guten Nachricht für 28 Millionen Beschäftigte, die in Europa auf digitalen Plattformen arbeiten: „Um Wildwestmethoden, Scheinselbstständigkeit und Ausbeutung auf diesem Schattenarbeitsmarkt wirksam einzudämmen, sind europaweite Standards für gute Arbeit überfällig.“
Die Zahl der in der Europäischen Union aktiven Plattformen sei von 463 im Jahr 2016 auf 516 im März 2021 gestiegen, heißt es im Entwurf, den die sozialdemokratische italienische Europaabgeordnete Elisabetta Gualmini als federführende Berichterstatterin vorgelegt hatte. Das Volumen der Plattformwirtschaft habe sich in der EU im selben Zeitraum fast verfünffacht, von schätzungsweise 3,4 Milliarden Euro im Jahr 2016 auf rund 14 Milliarden Euro im Jahr 2020.
Großteil der Arbeiter als Selbstständige eingestuft
Die EU-Kommission geht davon aus, dass sich die Zahl der Plattformbeschäftigten bis 2025 auf 43 Millionen erhöhen wird. Schätzungen zufolge würden neun von zehn Personen, die in der EU auf digitalen Plattformen tätig seien, derzeit als Selbstständige eingestuft, heißt es im Verordnungsentwurf der Brüsseler Behörde.
Und weiter: Schätzungen zufolge könnten bis zu 5,5 Millionen Menschen in Wahrheit Scheinselbstständige sein – eine Zahl, die beispielsweise vom Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland (VGSD) kritisch hinterfragt wird. Denn bei der Plattformarbeit geht es nicht nur um Essenskuriere oder Uber-Chauffeure. Auch hochbezahlte Ingenieurdienstleistungen oder die Pflege von Angehörigen können auf diesem Weg vermittelt werden.
Die sozialpolitische Sprecherin der FDP-Delegation im Europäischen Parlament, Svenja Hahn, wirft Gualmini denn auch vor, mit ihrem Vorschlag über das Ziel hinauszuschießen: „Statt Scheinselbstständigkeit zielgerichtet zu bekämpfen, würde das Gesetz de facto zur weitgehenden Abschaffung der Soloselbstständigkeit führen“, sagte Hahn – und dies weit über Liefer- oder Fahrdienste hinaus.
Faktisch würden alle Personen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiteten, in ein Angestelltenverhältnis gezwungen. Das sei für die FDP, die Selbstständigkeit fördern wolle, eine „rote Linie“. Hahn hat mit der liberalen Fraktion Renew Europe gegen den Text gestimmt.
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Der war in der Tat umstritten. Denn eigentlich hatte sich der Sozial- und Beschäftigungsausschuss bereits im Dezember mit einer großen Mehrheit von 70 Prozent auf die Verhandlungsposition des Europaparlaments festgelegt. Teile der konservativen und liberalen Fraktion hatten aber mit einer Unterschriftenaktion eine Abstimmung im Plenum erzwungen. Dort stimmten 376 Parlamentarier für den Entwurf, 212 dagegen und 15 enthielten sich.
„Unsere Gesetze dürfen nicht den Veränderungen in der Arbeitswelt hinterherhinken“, sagte die arbeits- und sozialpolitische Sprecherin der Europa-SPD, Gaby Bischoff. Es gehe um Millionen von Plattformbeschäftigten in Europa, die Zugang zu grundlegenden Arbeitnehmerrechten wie Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung erhalten sollen.
Die Ampelkoalition in Deutschland will die Initiative der EU-Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf Plattformen „konstruktiv“ begleiten. „Digitale Plattformen sind eine Bereicherung für die Arbeitswelt, deswegen sind gute und faire Arbeitsbedingungen wichtig“, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP.
Beschäftigte sollen sich leichter gewerkschaftlich organisieren können
Doch eine Einigung im Rat der Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Verhandlungsposition war im Dezember auch am Widerstand Deutschlands gescheitert. Während der Bundesregierung der Kommissionsentwurf zu weit geht, halten ihn andere Länder noch für zu liberal. Unter schwedischer Ratspräsidentschaft muss nun ein neuer Einigungsversuch unternommen werden.
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Das Europaparlament will mit seinem Vorschlag auch der Überwachung und Beurteilung von Beschäftigten durch Algorithmen oder Künstliche Intelligenz (KI) Grenzen setzen. Plattformarbeiter sollen ein Recht haben, zu erfahren, wie die Algorithmen arbeiten und welche Daten von ihnen genutzt werden. Außerdem sollen sie sich leichter gewerkschaftlich organisieren und kollektiv Tarifverträge aushandeln können.
Ohne Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, sagte Berichterstatterin Gualmini, seien Beschäftigte in der Plattformökonomie zu oft Sklaven des Algorithmus.
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