Berlin, Ankara Mehr als 17.000 Tote, 70.000 Verletzte – während noch mehr als 100.000 offizielle Helferinnen und Helfer im Einsatz sind, um Überlebende in den Trümmern zu finden, stellt sich in der Hauptstadt Ankara auch die Frage nach der politischen Zukunft des Landes.
Am 14. Mai sollen in der Türkei das Parlament und der Präsident vom Volk gewählt werden. Das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Staatschef Erdogan und möglichen Kontrahenten erhält mit dem Erdbeben eine unberechenbare Komponente: Wie gut werden die Rettungsmaßnahmen laufen, wie gut der Wiederaufbau? Und kann überhaupt gewählt werden?
Der türkische Staatspräsident steht bereits jetzt in der Kritik, und Recep Tayyip Erdogan selbst ist sich offenbar bewusst darüber, dass die Naturkatastrophe sein politisches Ende bedeuten könnte. Mehrere Menschen, die die Rettungsmaßnahmen kritisiert hatten, wurden bereits in Polizeigewahrsam genommen. Zudem war der Kurznachrichtendienst Twitter, über den viele ihren Unmut geäußert hatten, bis Donnerstag zeitweise gesperrt.
Kontinuität oder Neubeginn? 20 Jahre ist Erdogan nun im Amt, der Urnengang gilt als äußerst wichtig für das Land. Alle im Land erwarten eine hohe Wahlbeteiligung. Vereinzelt bezweifeln Beobachter allerdings, dass wegen der massiven Zerstörungen im Katastrophengebiet im Mai überhaupt Wahlen stattfinden können. Weil viele Straße dort unbefahrbar sind, könnten zahlreiche Staatsbürger die Wahlurnen nicht erreichen, so die verbreitete Skepsis.
Juristisch gesehen wäre eine Verschiebung jedoch schwierig. Denn die Legislaturperiode endet in der Türkei am 18. Juni. Die Wahlen dürfen laut Verfassung nur auf einen Zeitpunkt danach verschoben werden, wenn sich das Land im Krieg befindet.
Politische Beobachter verweisen auch darauf, dass die Türkei den Wiederaufbau vermutlich mit hohem Tempo vorantreiben wird. Das zeige die Erfahrung aus vergangenen Tragödien, etwa Terroranschlägen.
Im Mai 2016 starben durch Sprengstoffanschläge am Istanbuler Atatürk-Flughafen mehr als 50 Menschen, Teile des Abflugterminals waren eingestürzt.
Doch schon am nächsten Tag hoben dort wieder Flüge ab. Zwei Monate später erschütterte ein Putschversuch das ganze Land. Die Aufständischen griffen Regierungsgebäude, Flughäfen und das Parlament mit Kampfjets an und töteten Hunderte Menschen. Auch hier lief am nächsten Tag wieder alles fast so, als hätte es keinen Aufstand gegeben.
Die Oppositionspartei CHP versucht dennoch schon jetzt, politisches Kapital aus dem Erdbeben zu schlagen. Nachdem Hilfslieferungen aus oppositionellen Kommunen wie Istanbul und Ankara ohne offizielle Genehmigung der Behörden in die am schlimmsten betroffenen Gebiete gebracht wurden, twitterte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu: „Sollen sie uns doch verhaften.“
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Auffällig ist dabei nicht nur der betont aggressive Stil Kilicdaroglus, der seit mehr als zehn Jahren versucht, Erdogan zu stürzen. So veröffentlichte der 74-Jährige am Mittwochmorgen ein professionell produziertes Video, das ihn vor einem zerstörten Haus zeigt. Seine Botschaft: „Wenn es einen gibt, der diese Zerstörung zu verantworten hat, dann ist es Erdogan.“
Auffällig ist aber auch, dass er in seiner aus insgesamt sechs Parteien bestehenden Oppositionsallianz „Bündnis der Nation“ kaum Unterstützung erhält. Ob die teils berechtigte Kritik am Krisenmanagement der Regierung bei Wählerinnen und Wählern verfängt, ist daher noch nicht klar. Selbst in den eigenen Reihen kam Kilicdaroglu bisher nicht weit.
Meral Aksener, Chefin der zweitgrößten Iyi-Partei im Bündnis, hält sich mit politischen Ableitungen bisher weitgehend zurück. Am Donnerstag sagte sie während eines Besuchs in der weitgehend zerstörten Stadt Kahramanmaras: „Egal, wie dieses Land gerade regiert wird, ich bin stolz auf alle, die mithelfen.“
Auch der Chef der Deva-Partei hielt sich mit direkter Kritik an den Hilfsmaßnahmen zurück. Ali Babacan, ehemals Minister unter Erdogan und jetzt ebenfalls Mitglied des Oppositionsbündnisses, verzichtete angesichts des menschlichen Leids demonstrativ auf politische Polarisierungen.
Babacan stand am Mittwochabend, wenige Stunden nach der Wutrede seines Oppositionskollegen Kilicdaroglu, vor eingestürzten Gebäuden in der komplett zerstörten Großstadt Antakya. Seine Botschaft vor laufenden Fernsehkameras: „Diese Katastrophe ist nicht mit Wut, Hass oder Drohungen zu bewältigen.“
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