Berlin Die Alterung der deutschen Gesellschaft ist nicht nur ein Problem für die Sozialkassen und den Arbeitsmarkt, sondern bedroht auch den Innovationsstandort Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in einem neuen Gutachten, das sie an diesem Mittwoch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) übergibt. Darin dringen die Regierungsberater vor allem darauf, die Digitalkompetenzen älterer Bürger durch staatliche Programme zu verbessern.
Hier liege Deutschland weit zurück, sagte der EFI-Vorsitzende Uwe Cantner dem Handelsblatt. „Es geht auch nicht darum, dass Unternehmen dann mehr an den Älteren verdienen, sondern um deren gesellschaftliche Teilhabe: Als Beschäftigte, als Konsumenten und als Patienten.“ Die EFI erhofft sich dadurch auch einen Innovationsschub für die Wirtschaft. Die 2006 von der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) einberufene EFI besteht aus sechs Experten, die die Regierung in allen Fragen der Innovation beraten.
Im internationalen Vergleich ist der Anteil der 65- bis 74-Jährigen mit mindestens grundlegenden digitalen Kompetenzen mit nur 28 Prozent in Deutschland deutlich kleiner als etwa in den Niederlanden, der Schweiz oder Norwegen. Dort liegen die entsprechenden Anteile bei 55 bis 61 Prozent, heißt es im Gutachten.
Der Branchenverband Bitkom erklärt die enormen Unterschiede mit dem generellen Rückstand Deutschlands bei der Digitalisierung: „Die Seniorinnen und Senioren sind aufgeschlossen, aber in Deutschland fehlen ihnen die Möglichkeiten, im Alltag damit in Kontakt zu kommen“, sagt Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder.
Andere Länder seien zum Teil Jahrzehnte voraus – ob auf dem Amt, in der Arztpraxis, bei der Arbeit oder in der Schule: Die Nutzung digitaler Anwendungen und Technologien sei dort alltäglich und mit positiven Erfahrungen verknüpft. „Wo digital der Personalausweis beantragt, der Kitaplatz online gefunden oder die Patientenakte per Smartphone verwaltet wird, sind auch die digitalen Kompetenzen der Menschen ausgeprägter“, so Rohleder.
Zugleich dominiere in Deutschland oftmals noch die Risikoperspektive, daher sei es nötig, dass „die Chancen betont und niedrigschwellige Angebote geschaffen werden – bis ins hohe Alter“.
Die Expertenkommission verweist auf das Beispiel Kanada, wo intensive Förderung schnelle Erfolge bringe. So habe dort ein 2019 gestartetes und mit 19 Millionen Euro ausgestattetes staatliches Programm mit zahlreichen kostenlosen digitalen Angeboten im ganzen Land mehr als 400.000 Bürger erreicht, vor allem Menschen ab 65. Das war knapp ein Prozent der Bevölkerung. 2022 wurde das Programm mit einem Volumen von knapp 13 Millionen Euro verlängert.
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In Deutschland gibt es seit 2021 zwar den „Digitalpakt Alter“ des Bundesfamilienministeriums, der persönliche Beratung zu digitalen Fragen finanziert. Das Budget für zwei Jahre beträgt aber nur knapp 1,4 Millionen Euro; im ersten Jahr wurden laut EFI rund 10.000 ältere Menschen erreicht.
Auch die Digitalstrategie der Regierung verspricht, den „souveränen Umgang mit dem Digitalen im Alter zu stärken“, auch um die „Innovationskraft unseres Landes zu sichern – konkrete Programme nennt das Haus von Digitalminister Volker Wissing (FDP) allerdings nicht.
Gigantischer Bedarf im Pflegebereich
„Kanada sollte uns ein Vorbild sein“, mahnt Cantner, „auch wir dürfen hier nicht nur kleckern, sondern müssen klotzen.“ Denn Digitalkompetenz könne auch in der Medizin einen entscheidenden Unterschied machen und zugleich erhebliche Kosten sparen.
Die Möglichkeiten sind enorm: Sie reichen von Kontroll-Apps über Telematik bis zu Online-Sprechstunden. Das alles kann jedoch nur genutzt werden, wenn neben Ärzten und Pflegekräften auch ältere Patienten die nötigen digitalen Kompetenzen haben, mahnt die EFI. Der Bedarf ist gigantisch: Allein die Zahl der Pflegebedürftigen werde bis 2050 von heute 4,6 auf 6,5 Millionen Menschen steigen, heißt es im Gutachten.
Um qualifizierten und innovativen Rentnern ein längeres Arbeiten zu ermöglichen, fordert die Expertenkommission „attraktive Möglichkeiten, auf eigenen Wunsch später in den Ruhestand zu gehen“. Zudem solle der Bund hier dringend „sachgrundlose Befristungen“ der Arbeitsverträge zulassen, die für Beschäftigte bis zur Rente nur mit Einschränkung erlaubt sind. Denn Rentner müssten nicht mehr geschützt werden, sagt der EFI-Vorsitzende Cantner, „und Betriebe bekommen große Probleme, wenn sie deren Verträge nicht befristen dürfen“.
Mehr Beachtung Älterer empfiehlt die Expertenkommission auch bei der Förderung von Unternehmensgründern: Ältere sollten systematisch einbezogen werden und schon in der Ansprache sollte man Stereotype „jugendlicher“ Gründerinnen und Gründer vermeiden.
Das Bundeswirtschaftsministerium versichert, alle Förderprogramme stünden allen Altersgruppen offen. Ein Prospekt zum Thema „Gründen in verschiedenen Lebenslagen“ spricht neben Schülern und Studierenden auch Selbstständige „im besten Alter“ an. Diese hätten bereits „einige Höhen erreicht und Tiefen überstanden“ und seien daher häufig gelassener als Jüngere, meint das Wirtschaftsministerium.
Bisher sind ältere Generationen bei der Start-up-Gründung allerdings kaum vertreten. Nach Angaben des Ministeriums werden lediglich 5,5 Prozent der Jungunternehmen von Menschen gegründet, die älter als 55 Jahre sind. Vor allem die technologieorientierte Gründerszene ist von jungen Gesichtern geprägt.
In den USA, dem Land von Gründern wie Bill Gates (67) oder Jeff Bezos (59), ist das anders. Alexander Hirschfeld, Head of Research des Start-up-Verbandes, geht davon aus, dass viele, die jetzt in Deutschland gründen, der Start-up-Welt treu bleiben werden „und wir in den kommenden Jahren, ähnlich wie in den USA, mehr erfahrene ältere Gründerinnen und Gründer sehen werden“.
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