Oct 14, 2022
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Analyse: Höchste Tarifforderungen seit Jahren: Droht nun die Lohn-Preis-Spirale?

Written by Frank Specht


Berlin Acht Prozent mehr Geld fordert die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, 10,5 Prozent verlangen Verdi und Beamtenbund für den öffentlichen Dienst. Auch in der Chemie-Industrie beginnen nun die Verhandlungen über neue Tariflöhne.

Doch die Industriegewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) will in der Tarifrunde für die chemisch-pharmazeutische Industrie nicht in den Überbietungswettbewerb einsteigen. Statt hoher Forderungen zähle das Ergebnis, sagt IG-BCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski. Am Sonntag nehmen die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband BAVC in Wiesbaden die Chemie-Tarifrunde wieder auf, die im April ausgesetzt worden war.

Damals hatten sich beide Seiten auf eine „Brückenzahlung“ von 1400 Euro verständigt, jetzt wird darüber verhandelt, wie ein Inflationsausgleich für die Beschäftigten gelingen kann, ohne den Unternehmen die Luft abzuschnüren. Denn die Geschäftserwartungen in der Chemiebranche fielen im September auf den schlechtesten Wert seit 1991, wie das Ifo-Institut am Freitag mitteilte. Beide Seiten seien aufgerufen, „verantwortungsbewusst“ mit dem Krisengemisch umzugehen, sagt Sikorski.

Das gilt auch für die anderen Branchen. Doch in der Metall- und Elektroindustrie mit ihren 3,9 Millionen Beschäftigten brachte auch die zweite Verhandlungsrunde noch keine Annäherung.

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IG-Metall-Chef Jörg Hofmann verweist darauf, dass die Erfüllung der Acht-Prozent-Forderung die Unternehmen 16 Milliarden Euro kosten würde, während die Betriebe allein 27 Milliarden Euro an Dividenden ausgeschüttet hätten. Es gebe „viel Thermik“ unter den Mitgliedern, und die Gewerkschaft bereite sich auf einen Arbeitskampf vor, sagte Hofmann.

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Verdi und Beamtenbund haben mit 10,5 Prozent für die 2,5 Millionen Staatsdiener bei Bund und Kommunen die bislang höchste Forderung gestellt. Die Verhandlungen beginnen im Januar. Zeitnah wird also über die Entgelte von insgesamt rund sieben Millionen Beschäftigten entschieden. Kommt damit die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale in Gang?

„Bislang ist die Tariflohnentwicklung noch moderat“, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Mit den neuen Abschlüssen werde die Dynamik aber spürbar anziehen. Die sich abzeichnende Lohnentwicklung deute darauf hin, „dass der unterliegende Preisauftrieb im kommenden Jahr sich weiter verstärken wird“, schreibt auch Ralph Solveen, stellvertretender Leiter des Economic Research bei der Commerzbank.

Tarifabschlüsse könnten Preise steigen lassen

Tatsächlich ist bereits jetzt ein deutliches Anziehen der Tariflöhne zu beobachten. Berücksichtigt man die im ersten Halbjahr erzielten Tarifabschlüsse und die schon in den Vorjahren für 2022 vereinbarten Erhöhungen, so werden die Tariflöhne dieses Jahr nominal um 2,9 Prozent zulegen, hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnet.

Berücksichtigt man nur die im ersten Halbjahr erzielten Abschlüsse, die schon unter dem Eindruck des Ukrainekriegs und stark anziehender Preise erfolgten, liegt das Plus sogar bei 4,5 Prozent. Das sei deutlich mehr als der Durchschnitt der Tarifsteigerungen der zurückliegenden 20 Jahre, schreibt Solveen. Im vergangenen Jahr stiegen die Tarifverdienste nur um 1,7 Prozent.

Allerdings: Angesichts der hohen Inflation steht gesamtwirtschaftlich für die Beschäftigten wohl das zweite Jahr in Folge mit Reallohnverlusten an. Im vergangenen Jahr gingen die um die Inflation bereinigten Tariflöhne laut WSI um 1,4 Prozent zurück.        

Bei der Inflation wird wohl auch im kommenden Jahr eine Sieben vor dem Komma stehen

Für das laufende Jahr rechnen die Ökonomen der Deutschen Bank zwar mit einem Anstieg der Tariflöhne um drei Prozent und für das kommende Jahr um mindestens 4,5 Prozent. Unter Berücksichtigung möglicher Sonderzahlungen, die die Bundesregierung bis zu einer Höhe von 3000 Euro steuer- und abgabenfrei stellen will, seien effektiv sogar sechs Prozent drin.

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Selbst dieses Plus würde aber voraussichtlich von der Teuerung aufgefressen. Im September stieg die Inflationsrate auf zehn Prozent. Und mit Blick auf die erwartete Inflation für 2023 halte er es für „wahrscheinlich, dass zum Jahresende eine Sieben vor dem Komma stehen wird“, sagte Bundesbank-Präsident Joachim Nagel am Donnerstag am Rande der Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington.

Dennoch warnen Ökonomen, dass die Lohnentwicklung die Preise weiter hochtreiben könnte. Gerade stark auf den Binnenmarkt konzentrierte Branchen hätten gute Chancen, die höheren Lohnkosten an ihre Kunden weiterzugeben, erwartet Solveen. Auch die sich abzeichnenden kräftigen Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst würden die Inflation anschieben, da zu erwarten sei, dass viele öffentliche Stellen angesichts der steigenden Kosten ihre Gebühren anheben. Würden Verdi und Beamtenbund ihre Forderungen für den öffentlichen Dienst eins zu eins durchsetzen können, bedeutete das für Bund und Kommunen zusammen Mehrkosten von mindestens knapp 17 Milliarden Euro jährlich.

IG-BCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski

„Ich sehe zumindest in unseren Branchen das Thema Lohn-Preis-Spirale überhaupt nicht.“



(Foto: dpa)

Mit ihrer Forderung für den öffentlichen Dienst sendeten die Gewerkschaften ein „fatales Signal“ auf andere Branchen aus, sagt IW-Experte Lesch. Die drohende Rezession sei im öffentlichen Sektor zwar weniger spürbar, weil man einfach die Schulden erhöhen oder die Gebühren raufsetzen könne. Auch das Arbeitsplatzrisiko sei geringer als in der Privatwirtschaft. Aber das heiße nicht, dass nicht auch im Staatsdienst gespart werden müsste. „Den Wohlstandsverlust müssen letztlich alle tragen, da kann sich der öffentliche Dienst nicht einfach ausklinken“, betont Lesch.

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Auch in anderen Branchen sieht Lesch gute Chancen für hohe Abschlüsse. Zwar könne die sich abzeichnende Rezession die Offensive der Arbeitnehmervertreter bremsen. Wenn der Abschwung aber durch Kurzarbeit arbeitsmarktpolitisch abgefedert werde, müssten die Gewerkschaften wenig Rücksicht auf die Konjunktur nehmen.

IG-BCE-Verhandlungsführer Sikorski sieht zumindest in seinen Branchen noch keine Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale. Durch die gestiegenen Energiepreise sei der Personalkostenanteil in der chemischen Industrie auf 12,3 Prozent gesunken. Die Gewerkschaft hält zwar an ihrer Forderung nach einer „nachhaltigen Kaufkraftsteigerung“ fest, auch wenn die Inflationsrate im Februar, als die Forderung aufgestellt wurde, „nur“ bei 5,2 Prozent lag.

Erreicht werden soll der Reallohnerhalt aber nach den Vorstellungen der Gewerkschaft durch einen klugen Mix, der beispielsweise eine Prozenterhöhung, Festbeträge und staatlich geförderte Sonderzahlungen enthalten kann, sodass die dauerhafte Belastung für die Unternehmen im Rahmen bleibt.

BAVC-Verhandlungsführer Hans Oberschule sagt, er sehe zwar nur wenig Spielraum für tabellenwirksame, also dauerhafte Tariferhöhungen, da die Branche unter den hohen Energiepreisen leide und die Produktion seit dem russischen Angriff auf die Ukraine um zwölf Prozent zurückgegangen sei. „Zugleich stehen uns andere Optionen wie steuer- und beitragsfreie Einmalzahlungen zur Verfügung.“

Nach Vorstellungen der Gewerkschaft soll bei jenen Beschäftigten am meisten ankommen, die eine Entlastung am nötigsten haben. Gehen beide Seiten verantwortungsbewusst mit der Situation um, könnte schon am Ende der bis Dienstag angesetzten Verhandlungen ein Abschluss stehen. „Wir gehen mit dem festen Willen in die Verhandlungen, in Wiesbaden ein Ergebnis zu erzielen“, sagt Oberschulte.

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