Berlin Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verteidigt sich vor öffentlicher Kritik, auch aus den eigenen Reihen, es mit dem Gas zu übertreiben. „Wir preisen Risiken ein, planen zur Vorsorge mit Sicherheitspuffern, schaffen Flexibilität und handeln in europäischer Solidarität“, sagte Habeck. Sein Ministerium versendete am Freitagmorgen einen 19-seitigen Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestags, der sich liest wie ein Verteidigungsplädoyer.
Der Bericht, über den zuerst der digitale Nachrichtenanbieter Table Media berichtet hatte, bietet neuen Stoff für die Diskussion um den Aufbau von Kapazitäten für Flüssiggas (LNG). Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat Deutschland versucht, sich vom Pipelinegas aus Russland unabhängig zu machen. Im Herbst 2022 stellte Russland dann die Lieferungen nach Deutschland komplett ein.
Die Bundesregierung will die entstandene Lücke bei der Gasversorgung vor allem durch LNG-Terminals an den Häfen in Norddeutschland schließen. Dabei schießt sie nach Ansicht einiger Grüner über das Ziel hinaus.
Sie befürchten, dass Deutschland durch die neuen Terminals später von klimaschädlichem Erdgas loskommt. „In den aktuellen Plänen der Bundesregierung gibt es so große Sicherheitspuffer, dass die Gefahr fossiler Überkapazitäten droht – mit großen ökologischen und ökonomischen Risiken“, sagte der Grünen-Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak dem Handelsblatt.
Auch im Bundeswirtschaftsministerium sind nicht alle von dem Vorgehen überzeugt. Das Umfeld von Kanzler Olaf Scholz (SPD) aber soll darauf drängen, die Versorgungssicherheit zu priorisieren. Um den vorliegenden Bericht wurde offensichtlich lange gerungen. Er hätte schon vor zwei Wochen fertig sein sollen.
Ein Blick in die Details gibt nun Aufschluss, welcher Logik die Befürworter eines großen Sicherheitspuffers folgen – und welche Schwächen die Argumentation hat.
Wie viel Gas fehlt Deutschland?
Schon vor dem Ukrainekrieg hatte Deutschland auch aus anderen Ländern Gas erhalten. Der Großteil kam aber aus Russland. Nach Kriegsausbruch wurde die Versorgung durch andere Lieferanten deutlich hochgefahren, insbesondere aus Norwegen. Zudem wird Deutschland seither mit Flüssiggas beliefert, das an Häfen in Nachbarstaaten wie Belgien und Frankreich ankommt.
Gleichzeitig sinkt die Nachfrage nach Gas zunehmend. Haushalte rüsten ihre Heizungen auf Wärmepumpen um, die Industrie will auf Wasserstoff setzen. Das reicht nach Einschätzung des Wirtschaftsministeriums in dem Bericht aber nicht aus. 2023 bestehe weiterhin eine Versorgungslücke von rund 28 Milliarden Kubikmeter, die durch deutsche LNG-Terminals geschlossen werden müssten. Bis 2030 verringere sich die Lücke aufgrund der sinkenden Gasnachfrage auf 13 Milliarden Kubikmeter.
Die Regierungsbeamten betonen, dass Deutschland seine Situation nicht international losgelöst betrachten könne. Nur 62 Prozent des durch Deutschland transportierten Gases blieben perspektivisch im Land. Vor allem Osteuropa müsse man zunehmend mitversorgen. Einige Länder dort bekommen noch russisches Gas, wollen davon aber zunehmend loskommen.
Wie viel LNG ist vorgesehen?
Um diese Lücke schnell schließen zu können, setzt Deutschland auf LNG-Schiffe. Diese Spezialschiffe werden gechartert und parken vor den Häfen. Das angelieferte Gas, das für den Transport zuvor verflüssigt werden musste, wird dort wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt und in das Versorgungsnetz eingespeist.
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Der Bund hat im vergangenen Jahr fünf dieser Spezialschiffe gechartert. An den Standorten Wilhelmshaven und Brunsbüttel hat man sie schon in Betrieb genommen. Zum kommenden Winter sollen sie an den übrigen Standorten Wilhelmshaven II, Stade und Lubmin an den Start gehen. Ein sechstes Spezialschiff, das von privaten Unternehmen organisiert wurde, ist seit Anfang 2023 vor Lubmin aktiv.
Die Spezialschiffe sollen 2023 zusätzliche Kapazitäten für den Gasimport in Höhe von 13,5 Milliarden Kubikmeter schaffen. Die durch das fehlende russische Gas entstandene Lücke von 28 Milliarden Kubikmeter ist damit nicht geschlossen. Weil die Gasspeicher in Deutschland aber überdurchschnittlich voll sind, dürfte kein Gasmangel in diesem oder im nächsten Winter aufkommen.
Die Spezialschiffe sind eine schnelle, aber teure Lösung. Deshalb sollen in Deutschland drei feste LNG-Terminals in den Häfen entstehen. An einem ist der Bund zur Hälfte beteiligt, bei den anderen beiden handelt es sich um private Projekte.
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Sie alle sollen zwischen 2026 und 2027 einsatzbereit sein. Dann wird die jährliche deutsche LNG-Kapazität auf 54 Milliarden Kubikmeter steigen – und die Versorgungslücke um mehr als 40 Prozent übersteigen.
Ist diese Planung der Bundesregierung sinnvoll?
Nicht nur werden die neuen LNG-Kapazitäten die Versorgungslücke im Verlauf der Jahre immer deutlicher übersteigen. Auch rechnen die Ministerialbeamten in dem Bericht äußerst großzügig. Es gibt Grund zur Annahme, dass die Überkapazitäten noch größer sind als dargestellt.
Im Bericht wird bei der Schätzung des Gasverbrauchs das höchstmögliche Szenario gewählt. Darauf werden dann noch pauschal weitere zehn Prozent Verbrauch als „Risikoaufschlag“ addiert. Zudem gibt es Überlegungen, dass der Bund ein sechstes LNG-Schiff chartert und vor der Ostseeinsel Rügen platziert.
Außerdem wird die Lage in den Nachbarländern als statisch angenommen. In Osteuropa dürfte die Nachfrage aber auch sinken, sodass diese Länder weniger Gas aus Deutschland brauchen. „Der Bericht wirft neue Fragen auf“, kritisierte Grünen-Politiker Banaszak. „Zur Erreichung der Klimaziele ist es keine Option, die geplanten Kapazitäten zu nutzen.“
Auch Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, bemängelte: „Gegen jede haushaltspolitische Vorsicht und wissenschaftliche Empfehlungen führender Institute, werden damit Milliarden an Steuergeld in überdimensionierte LNG-Infrastruktur investiert, die für unsere Energiesicherheit unnötig ist.“ 9,8 Milliarden Euro hat der Bund zwischen 2022 und 2038 für seine LNG-Pläne bislang vorgesehen, es dürften aber noch mehr werden.
Bei den „wissenschaftlichen Empfehlungen führender Institute“ bezieht Müller-Kraenner sich auf eine Studie zu den globalen Gasmärkten, die das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) im Auftrag der Bundesregierung erstellt hat. Die Studie zeigt, dass die geplanten deutschen LNG-Terminals im Jahr 2035 zu 100 Prozent ausgelastet wären, falls Russland bis dahin auch seine Gaslieferungen nach Osteuropa einstellt und falls der weltweite Gasverbrauch nicht im Einklang mit den Klimazielen sinkt.
Sollte Russland weiter wie bisher Gas in den Osten liefern oder sollten Klimaziele zumindest teilweise verfolgt und somit Gas eingespart werden, sind die Terminals laut der Studie je nach Szenario im Jahr 2035 nur zu 16 bis 38 Prozent ausgelastet. Im Jahr 2026 sind sie demnach selbst im schlechtesten Szenario, in dem der Gasverbrauch nicht sinkt, nur zu maximal 75 Prozent ausgelastet.
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Das Wirtschaftsministerium verteidigt sich im Bericht. Die Importkapazitäten dürften „nicht auf Kante genäht“ sein. „Vielmehr müssen die Infrastrukturen so ausgelegt werden, dass Verbrauchsspitzen (zum Beispiel ein besonders kalter Winter) oder der vorrübergehende Ausfall einzelner Komponenten zuverlässig abgedeckt werden können.“
Ein möglicher Ausfall von Infrastrukturen oder Lieferungen spiele bei den Kritikern keine Rolle. Das gelte auch für die EWI-Studie. Nach dem Sabotageakt an den Nord-Stream-Pipelines ist in der Bundesregierung vor allem die Sorge vor ähnlichen Vorkommnissen an den Gasleitungen von Norwegen nach Deutschland groß. Unionsfraktionsvize Jens Spahn springt der Regierung zur Seite. „In der Krise gilt: besser haben als brauchen“, sagte Spahn.
Mit Blick auf die Klimafrage verweisen die Beamten darauf, dass die LNG-Terminals auf klimaneutralen Wasserstoff umgebaut werden könnten: „So wird die geplante feste LNG‐Infrastruktur auf die bis 2045 herzustellende Klimaneutralität vorbereitet sein.“ Und nur weil es mehr Kapazitäten gebe, müsse man diese nicht nutzen.
Die Debatte fußt offensichtlich sowohl auf stärker beeinflussbaren als auch auf gar nicht beeinflussbaren Faktoren. Wer am Ende recht behalten wird, dürfte sich dadurch erst in einigen Jahren zeigen.
Mitarbeit: Catiana Krapp
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