Ankara Die türkische Opposition ist sich einig – eigentlich: Der Präsident Recep Tayyip Erdogan soll abgewählt werden. Wer den autokratischen Staatschef beim Urnengang herausfordern will, steht allerdings zehn Wochen vor der Wahl nicht fest.
Denn ein Bündnis der Oppositionsparteien streitet über die Aufstellung des Gegenkandidaten. Die größte Oppositionspartei CHP will den eigenen Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen. Die zweitgrößte Partei, die Iyi-Partei, und deren Parteichefin Meral Aksener sind dagegen. Aksener favorisiert die oppositionellen Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, und Ankara, Mansur Yavas, als Kandidaten.
Das Sechser-Bündnis – dem die Iyi-Partei zu dem Zeitpunkt noch angehörte – hatte sich laut einer Erklärung vom späten Donnerstagabend eigentlich auf einen gemeinsamen Kandidaten im Rennen um das Präsidentenamt geeinigt. Der Name blieb aber zunächst geheim. Wen das Bündnis aufstellt, solle am 6. März bekannt gegeben werden, hieß es in der gemeinsamen Erklärung der Parteien von Donnerstagabend.
Wenige Stunden später stellte Iyi-Chefin Aksener klar: Es hat nie eine Einigung gegeben. Offenbar wollte der „Sechsertisch“ am Donnerstagabend den in Umfragen abgeschlagenen CHP-Parteichef zum Kandidaten machen. Aksener spricht von Betrug und, dass sie gezwungen worden sei, den unbeliebten CHP-Chef Kilicdaroglu zum Kandidaten zu küren.
Nun droht dem Anti-Erdogan-Bündnis der Zerfall. Denn die Iyi-Partei hat die Allianz am Freitag verlassen. Mit Bedauern habe man festgestellt, dass das Anti-Erdogan-Bündnis die Fähigkeit verloren habe, den Willen des Volkes widerzuspiegeln, sagte die Iyi-Vorsitzende Aksener.
„Die IYI-Partei in eine Zwickmühle geraten“, erklärte Aksener in einer wutentbrannten Rede, „gezwungen, eine Zumutung durchzusetzen, zwischen Tod und Malaria zu wählen“. Die Iyi-Partei werde sich dem nicht beugen.
Nach der Erdbebenkatastrophe ist Staatschef Erdogan angeschlagen
Insider wollen von Zwist und Wortgefechten bei den Oppositionsparteien wissen. „Funktionäre der Iyi-Partei berichten bereits, dass sie ein eigenes nationalistisches Bündnis bilden und einen eigenen Kandidaten nominieren könnten“, schreibt der Kolumnist Muharrem Sarikaya von der Zeitung „Habertürk“ am Freitag.
Zu dem Bündnis gehören neben der CHP auch zwei Abspaltungen von Erdogans AKP: die Deva-Partei von Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan und die Gelecek-Partei vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Außerdem gehören die Demokrat Partisi und die Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) dem Bündnis an.
Die größte Oppositionspartei CHP will den eigenen Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen.
Der türkische Staatschef Erdogan gilt seit der Erdbebenkatastrophe Anfang Februar als politisch angeschlagen. Doch ohne einen Gegenkandidaten könnte sich Erdogan in der Wahl behaupten, obwohl sich eine wachsende Mehrheit im Land die Abwahl des autokratischen Regierungschefs wünscht.
Die politischen Folgen des Erdbebens könnten der Opposition jedoch auch eine Gelegenheit bieten, Erdogan abzusetzen. Kilicdaroglu ist es gelungen, sein Ansehen in den vergangenen zwei Wochen zu stärken, sagt Wolfango Piccoli von der Beratungsfirma Teneo. „Er nutzte die Gelegenheit, nach der verheerenden Naturkatastrophe in die Offensive gegen Erdogan zu gehen.“
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Auch die extrem hohe Inflation sei eine gute Gelegenheit für die Opposition, ihren Einfluss zu stärken. Am Freitag hatte das nationale Statistikinstitut bekannt gegeben, dass die Teuerungsrate immer noch bei mehr als 50 Prozent liege.
Doch der Großteil der Opposition beschäftigt sich mehr mit sich selbst als mit den Wählerinnen und Wählern. So konnte sich das Bündnis bislang nur darauf einigen, im Falle eines Wahlsiegs unter anderem das Präsidialsystem wieder in ein parlamentarisches System zu überführen, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit zu stärken und die Macht des Präsidenten zu beschneiden.
Nach dem Rücktritt der Iyi-Partei kommen nun immer mehr Gerüchte auf, dass die Allianz gegen Erdogan weiter zerfallen könnte. Sollte das der Fall sein, laufen die Oppositionsparteien Gefahr, sich gegenseitig Stimmen zu stehlen. Profitieren würde davon vor allem Erdogan.
Umfragen zeigen kein deutliches Bild
Die Ergebnisse zweier Umfragen nach dem Erdbeben geben kein deutliches Bild ab. Die Befragung der türkischen Umfragefirma ORC rund zwei Wochen nach dem Erdbeben sieht Erdogans Partei AKP erstmals unterhalb der 30-Prozent-Marke. Demnach kommt die Regierungspartei auf 29,1 Prozent, die CHP auf 23,5 und die Iyi-Partei auf 19,5 Prozent.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen des Erdbebens Anfang Februar mit mehr als 45.000 Toten statt.
(Foto: via REUTERS)
Die HDP, die keiner Allianz angehört, erreicht 8,1 Prozent und Erdogans Koalitionspartner MHP 5,4 Prozent. In der Türkei werden am 14. Mai, dem Wahltag, sowohl das Parlament als auch das Präsidentenamt neu gewählt. Die Regierung würde dieser Umfrage zufolge ihre Mehrheit im Parlament verlieren.
Eine andere, bislang unveröffentlichte Umfrage des Instituts Team sieht die Allianz von AKP und MHP hingegen bei gut 45 Prozent, über fünf Prozentpunkte mehr als in der ORC-Umfrage. Für einen statistischen Fehler ist der Unterschied zu groß. Auch der Befragungszeitraum war knapp zwei Wochen nach dem Erdbeben nahezu identisch.
Wahrscheinlich ist, dass einige der Befragten keine eindeutige Tendenz haben, wen sie wählen wollen. Eine geeinte Opposition könnte diesen Umstand für sich nutzen. Doch davon scheinen Erdogans Gegner derzeit weit entfernt.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden im Schatten der Auswirkungen des Erdbebens Anfang Februar mit mehr als 45.000 Toten statt. Mindestens zwei Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,6 zerstörten binnen weniger Stunden Häuser, Straßen und Infrastruktur auf einer Fläche von einem Drittel Deutschlands.
Der Aufbau wird Jahre dauern und nach Angaben der Weltbank 34,8 Milliarden US-Dollar kosten. Erdogan will dennoch am 14. Mai als Wahltermin festhalten.
Mehr: Die Türkei macht die Zentralbank zum Katastropheninstrument
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