Berlin Wer verstehen will, was Carla Hustedt und Stefan Heumann erreichen wollen, stelle sich folgendes Szenario vor: Die internationale Gemeinschaft einigt sich darauf, bis 2030 gemeinsam gegen die Macht undurchschaubarer Algorithmen vorzugehen.
In Deutschland gehen jeden Freitag junge Menschen auf die Straße, um gegen schlecht digitalisierte Schulen und die Übermacht international agierender Tech-Konzerne zu demonstrieren. Alle Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft arbeiten gemeinsam intensiv daran, die digitale Zukunft des Landes voranzubringen.
Ein Szenario, das derzeit eher nach einer Utopie klingt. Eine neue Denkfabrik der Stiftung Mercator will jetzt daran arbeiten, dass sie zumindest teilweise Realität wird: „Agora Digitale Transformation“ soll die Digitalisierung in die Köpfe der Bürger und auf die Tagesordnung der Entscheider bringen. Stefan Heumann wird den neuen Thinktank leiten, Carla Hustedt ist als Leiterin des Bereichs „Digitalisierte Gesellschaft“ der Mercator-Stiftung der Kopf hinter der Konzeption.
Mercator will die neue Denkfabrik mit 8,6 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahres ausstatten. Die Vorgänger „Agora Energiewende“ und „Agora Verkehrswende“ dienen als Blaupause.
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Das Kalkül: Was bei den beiden Vorbildern funktioniert hat, nämlich die Klimakrise hoch auf die politische Tagesordnung zu bringen, soll mit der neuen Denkfabrik auch bei der Digitalisierung funktionieren.
Gespräche mit Politikern und Wirtschaft
Um herauszufinden, wo der größte digitale Nachholbedarf ist, hat Hustedt gemeinsam mit ihrem Team im vergangenen Jahr viele Gespräche mit Vertretern von Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft geführt. Das Ergebnis fasst sie so zusammen: „In Deutschland und Europa fehlen Vision und Gesamtstrategie für den digitalen Wandel.“ Daher will die Denkfabrik vor allem die Frage beantworten: Wo soll die Digitalpolitik eigentlich hinsteuern?
„Alle unseren gegenwärtigen Krisen hängen mit der Digitalisierung zusammen“, Carla Hustedt. Corona habe gezeigt, wie viel trotz pandemischer Notlage dank digitaler Technik möglich sei – und wo es noch großen Aufholbedarf gebe.
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Beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine würden Desinformationen als Waffe genutzt. „Es zeigt sich, wie privatwirtschaftliche Geschäftsdynamiken Diktatoren stärken“, sagt Hustedt. Doch die Bedeutung des Digitalen sei trotzdem bisher noch nicht allen bewusst.
Das Problem sei, so analysiert sie, dass zwar viele Menschen die Digitalisierung generell für ein wichtiges Thema hielten, es aber häufig Berührungsängste und Verständnisprobleme gebe. Hustedt selbst hatte diese Berührungsängste gegenüber Technik und Zahlen ihren Worten nach nie.
„Ich habe viel Zeit im Computerladen meines Vaters verbracht“, erzählt die 31-Jährige. „Mein erster Job war es, Disketten zu formatieren.“ Dadurch habe Technologie immer eine Rolle gespielt – auch Statistik und Datenanalyse hätten sie immer interessiert.
Ihre größte Forderung ist, bei der Digitalisierung nicht immer nur zu reagieren, sondern selbst Akzente zu setzen. „Wir müssen endlich von der Rückbank ans Lenkrad“, sagt die studierte Politikwissenschaftlerin.
Auch Stefan Heumann, der Chef des neuen Thinktanks, gibt zu bedenken: „Bisher ist das Thema noch nicht an der politischen Spitze angekommen.“ Heumann wechselt nicht zuletzt aus einer gewissen Ernüchterung heraus in seine neue Aufgabe.
Frustration im Digitalbereich
Bisher war der 44-Jährige Mitglied des Vorstands bei der Stiftung Neue Verantwortung, die ebenfalls auf Technologie- und Gesellschaftsthemen fokussiert ist. Dort habe es ihn immer wieder frustriert, dass die erarbeiteten Vorschläge von Regierung und Ministerien nicht aufgegriffen würden.
In die Lehre gegangen ist Heumann gewissermaßen im weltweit führenden Digitalland, den USA. Dort lebte er über acht Jahre und entdeckte das Thema der Interaktion zwischen Staat und dem Digitalen für sich: Wie verändern digitale Plattformen Wahlkämpfe? Und wie muss Politik handeln, damit der Staat bei der Digitalisierung nicht die Kontrolle verliert?
Deutschland hingegen sei digitalpolitisch zu sehr in Grabenkämpfe verstrickt. Beim Thema Datenschutz etwa, wo sich Befürworter und Gegner oft unversöhnlich gegenüberstünden.
Ob eine neue Denkfabrik Deutschland bei der Digitalisierung wirklich helfen kann, muss sie erst noch beweisen. Die beiden Vorgängerorganisationen der Stiftung Mercator zur Energie- und Verkehrswende gelten als einflussreiche zivilgesellschaftliche Lobbygruppen für den Klimaschutz.
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Das liegt einerseits an einer guten Vernetzung im politischen Berlin und darüber hinaus. Patrick Graichen, bis Dezember 2021 Exekutivdirektor von „Agora Energiewende“, ist Staatssekretär in Robert Habecks Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.
Auch Heumann hat durch seine Tätigkeit bei der Stiftung einen guten Draht zur Politik – so war er etwa als Sachverständiger Mitglied der Enquetekommission „Künstliche Intelligenz“ des Deutschen Bundestags.
Andererseits erhofft sich die neue „Agora Digitale Transformation“ durch die komfortable finanzielle Ausstattung, auch langfristiger planen und arbeiten zu können als viele andere Organisationen, die nur projektbezogen finanziert werden. Das Geld der Mercator-Stiftung stammt aus dem Vermögen der Unternehmerfamilie Karl Schmidt aus Duisburg.
<< Den vollständigen Artikel: Digitalisierung: „Von der Rückbank ans Lenkrad“: Neue Lobbygruppe will Digitalpolitik voranbringen >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.