– von Pavel Polityuk und Tom Balmforth
Kiew (Reuters) – Bei einem der größten Angriffe seit Beginn des Krieges vor fast zehn Monaten ist die Ukraine nach eigenen Angaben mit Dutzenden russischen Raketen beschossen worden.
Mitten im morgendlichen Berufsverkehr wurde am Freitag die Hauptstadt Kiew von Explosionen erschüttert. Aus Charkiw im Osten und mehreren weiteren Orten wurden Stromausfälle und Angriffe auf zentrale Teile der Infrastruktur gemeldet. Im südukrainischen Krywyj Rih wurde ein Wohnungsblock getroffen, mindestens zwei Menschen wurden getötet und fünf weitere verletzt, wie lokale Behörden mitteilten. Ein Mensch kam demnach im südlichen Cherson bei einem durch Beschuss ausgelösten Brand ums Leben. Im ganzen Land heulten Warnsirenen auf. “Ignorieren Sie nicht den Luftalarm, bleiben Sie in den Schutzräumen”, forderte der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko, die Bevölkerung über Telegram auf.
60 bis 70 Raketen wurden nach Angaben des ukrainischen Militärs abgeschossen. Auf das Gebiet rund um Kiew seien insgesamt 40 Geschosse abgefeuert worden, 37 seien vom Himmel geholt worden. In Charkiw, wo über eine Million Menschen wohnen, fiel der Strom nach Angaben des Betreibers Oblenergo komplett aus. Bürgermeister Ihor Terechow sagte, die Schäden seien kolossal. Er bat die Bewohner um Geduld. “Ich weiß, dass es in Ihren Häusern kein Licht, keine Heizung und keine Wasserversorgung gibt.”
Ähnlich wurde die Lage in der kleineren Stadt Poltawa im Landeszentrum geschildert, und auch aus der nordöstlichen Region Sumy wurden Stromausfälle gemeldet, die durch Raketenangriffe verursacht worden seien. In der Schwarzmeerregion Odessa im Süden des Landes wurde nach Behördenangaben ebenfalls kritische Infrastruktur getroffen. In mehreren Landesteilen war der Bahnverkehr nach Betreiberangaben beeinträchtigt.
Seit Oktober hat das russische Militär nahezu wöchentlich die zivile Energieinfrastruktur der Ukraine angegriffen. Für die Menschen bedeutet das Mitten im Winter bei eisigen Temperaturen Strom-, Heizungs- und Wasserausfälle. Kiew spricht von Kriegsverbrechen, Moskau hat erklärt, Ziel sei es, das ukrainische Militär zu schwächen. Zwar konnte einiges wieder repariert werden, doch mit jedem Angriff wird das schwieriger. Landesweit kommt es deshalb auch zu Notabschaltungen von Stromanlagen, verlautete aus dem Präsidentenbüro. Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko erklärte in den sozialen Medien, Russland wolle die Ukrainer unter ständigen Druck setzen und erreichen, “dass sie fast jeden Tag in die Bombenschutzkeller gehen müssen, dass sie sich wegen Stromausfällen oder Wasserunterbrechungen unwohl fühlen”. Doch die Ukraine werde ausharren.
Gleichzeitig toben auch am Boden weiterhin Kämpfe. In der ostukrainischen Region Luhansk wurden am Freitag durch ukrainischen Beschuss der russischbesetzten Siedlung Lantratiwka mindestens acht Menschen getötet und 23 verletzt, wie die russische Nachrichtenagentur Tass berichtete. Sie berief sich auf den von Russland eingesetzten Statthalter von Luhansk, Leonid Pasetschnik, der von einem barbarischen Angriff sprach. Die Ukraine nehme Wohn- und Einkaufsviertel sowie Schulen ins Visier, um “so viele Menschen wie möglich zu töten”. Der Chef einer prorussischen Separatisten-Miliz sagte, auch in dem Ort Swatowe rund 70 Kilometer weiter südlich sei ein Zivilist durch ukrainischen Beschuss getötet worden.
VORGESCHMACK AUF NEUE OFFENSIVE IM JANUAR?
Die Berichte über das Kriegsgeschehen lassen sich kaum unabhängig überprüfen. Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Reuters hörten am Freitagmorgen in Kiew mehrere Explosionen. Es war jedoch nicht klar, ob diese durch Raketen verursacht wurden, die trotz der Luftabwehr durchgedrungen waren. Russland greife “massiv an”, erklärte der Gouverneur der Hauptstadt-Region, Olexij Kuleba. Erst vor wenigen Tagen hatte Russland den ersten größeren Drohnenangriff auf Kiew seit Wochen verübt. Zwei Verwaltungsgebäude wurden getroffen, aber den Luftabwehrsystemen gelang es Medienberichten zufolge, die Attacke weitgehend abzuwehren und 13 Drohnen abzuschießen.
Russland war kurz nach Beginn seiner Invasion am 24. Februar bis auf Kiew vorgerückt, geriet dann aber rasch in die Defensive. Im März zog es seine Soldaten aus der Hauptstadtregion zurück, um sich auf den Osten und Süden der Ukraine zu konzentrieren. Die ukrainische Militärführung rechnet allerdings damit, dass Moskau im Januar eine neue Offensive starten könnte – und damit auch einen zweiten Versuch zur Eroberung Kiews. “Die Russen bereiten etwa 200.000 Soldaten auf den Einsatz vor. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie es wieder auf Kiew abgesehen haben”, zitierte das Wirtschaftsmagazin “The Economist” den ukrainischen General Walerij Saluschnyj.
Entspannung ist nicht in Sicht. Beide Seiten haben eine Feuerpause zu Weihnachten ausgeschlossen. Angesichts der anhaltenden Angriffe hat die ukrainische Führung zuletzt verstärkt mehr Unterstützung und Waffen vom Westen gefordert. Die Europäische Union beschloss am Donnerstag auf einem Gipfeltreffen Milliardenhilfen für die Ukraine und ein neuntes Sanktionspaket gegen Russland. In den USA wiederum gab der Kongress grünes Licht für den Verteidigungshaushalt, der ebenfalls zusätzliche Hilfen für die Ukraine vorsieht. Außerdem weiten die Amerikaner ihre Ausbildungsmission in Deutschland für ukrainische Soldaten aus.
(geschrieben von Christian Rüttger,; redigiert von Hans Busemann, Kerstin Dörr.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)
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