LONGYEARBYEN (dpa-AFX) – Eisig kalt rauscht der Wind um eine schwere Stahltür, die eingebettet in einen spektakulären Betoneingang ins Innere eines schneebedeckten Berges führt. In dieser frostigen Umgebung liegt ein Schatz, der letztlich dabei helfen soll, die Ernährung der Menschheit sicherzustellen: Samen etwa von Weizen und Gerste, etlichen Obst- und Gemüsesorten sowie weiteren Nutz- und Kulturpflanzen werden hier auf Spitzbergen in aller Abgeschiedenheit gelagert – fernab von Krieg, Zerstörung und Naturkatastrophen und bei Minusgraden konserviert für die Zukunft.
Der Svalbard Global Seed Vault, der globale Saatguttresor auf der nordnorwegischen Inselgruppe Spitzbergen (Svalbard) in der Nähe des Ortes Longyearbyen, ist seit seiner Eröffnung am 26. Februar 2008 zu einer Art arktischer Arche Noah für die Pflanzenvielfalt geworden. Samen von rund 6000 Pflanzenarten sind dort tiefgefroren gebunkert, damit man im Fall der Fälle auf sie zurückgreifen kann.
“Svalbard ist für uns eine Lebensversicherung, die wir vielleicht nie in Anspruch nehmen werden”, sagt Stefan Schmitz, der Exekutivdirektor des in Bonn ansässigen Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt, kurz Crop Trust genannt. “Es ist eine Lebensversicherung für die Ernährung der Welt im 21. Jahrhundert.”
Die Lokalbevölkerung von Longyearbyen feierte das Jubiläum der weltweit einzigartigen Anlage am Sonntag mit einer Zeremonie im Svalbard-Museum im Zentrum des Ortes. Zuvor wurden Dutzende Boxen mit knapp 20 000 neuen Saatgutproben am örtlichen Flughafen registriert, ehe sie am Dienstag mit Unterstützung von 15-Jährigen aus dem Ort offiziell eingelagert werden sollen. Die Teenager sind in etwa gleich alt wie die Einrichtung, die mittlerweile viele Menschen auf der Welt mit Spitzbergen in Verbindung bringen, nicht nur mit Eisbären und Polarlichtern.
Crop Trust zählt neben der norwegischen Regierung und dem nordischen Agrarforschungsinstitut NordGen zu den drei Betreibern des Saatguttresors. Oberstes Ziel: die Pflanzenvielfalt der Welt und damit nicht zuletzt die Ernährung der Menschheit für die Zukunft zu sichern. “Wir sammeln dort Saatgüter und sichern sie, um gegen alle möglichen Notfälle gewappnet zu sein”, sagt Schmitz.
Solche Notfälle treten im Idealfall niemals ein – einmal bislang aber doch: Das internationale Forschungsinstitut Icarda konnte im Zuge des Syrischen Bürgerkriegs nicht mehr auf seine Genbank in Aleppo zugreifen – doch zum Glück hatte das Institut schon 2012 Samen aus seiner Sammlung in Spitzbergen einlagern lassen.
“Wir konnten damals 116 000 Samenproben zu Icarda im Libanon und in Marokko schicken, mit denen neue Einheiten in diesen Ländern aufgebaut wurden”, sagt Åsmund Asdal, der als Betriebskoordinator der Anlage so etwas wie der Wächter über den Saatgutschatz von Spitzbergen ist. “Es ist natürlich eine traurige Geschichte über Syrien, aber es ist ein exzellentes Beispiel für die Bedeutung des Saatguttresors.” Mittlerweile konnte das Icarda bereits wieder über 100 000 Proben in den Saatguttresor zurückschicken.
Im Grunde alle Saatgutbanken der Welt können Sicherungskopien ihrer Bestände hinterlegen – diesmal sind beispielsweise erstmals Saatgüter aus dem afrikanischen Benin dabei. Zurückfordern können sie die Samen, wann immer sie es für nötig halten. Sie werden bei minus 18 Grad in vakuumverpackten Alu-Tütchen gelagert, die in drei von der Außenwelt abgeschirmten Kühlkammern in Boxen verstaut sind. Schmitz, der zum Jubiläum erneut nach Spitzbergen gereist ist, nennt es eine “eiserne, eisige Reserve”.
Nach der Deponierung am Dienstag werden mehr als 1,2 Millionen Samenproben von fast 100 Genbanken im Tresor gesichert sein. Darunter sind über 200 000 Weizen- und 170 000 Reisproben, wie Asdal auf der Zeremonie berichtete. Von mancher Pflanzenart sind es dagegen nur ein oder zwei. Kapazität hat der Seed Vault für 4,5 Millionen Proben.
Nun dürften doch eigentlich ein oder zwei Weizensorten ausreichen, um zum Beispiel einen vernünftigen Pizzateig zu fabrizieren, könnte man meinen. Und tatsächlich findet in der Landwirtschaft seit gut 100 Jahren eine Optimierung hin zu immer weniger Arten und Sorten statt, wie Schmitz sagt. Das macht Produkte unter anderem preiswerter und leichter lagerfähig – doch zugleich kommt damit die Pflanzenvielfalt auf den Äckern abhanden. 75 Prozent davon sind nach Schätzung der UN-Ernährungsorganisation FAO von 1900 bis 2000 verloren gegangen.
Eine zentrale Aufgabe von Genbanken und des Tresors auf Spitzbergen ist es daher, die Diversität zu bewahren. “Ziel der Genbanken und des Saatgutdepots auf Spitzbergen ist die Erhaltung der genetischen Vielfalt für künftige Forschung und künftige Züchtung, und wenn Sie es global sehen, auch für die künftige Ernährung der Menschheit”, sagt Andreas Börner, Leiter der Arbeitsgruppe Ressourcengenetik und Reproduktion am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben in Sachsen-Anhalt, der größten Genbank Deutschlands und der gesamten EU.
Um seine Bestände zu sichern, greift auch das IPK auf Spitzbergen zurück. 2761 der knapp 20 000 neuen Saatgutproben stammen diesmal vom IPK, ein Tütchen mit Samen wildwachsender Erdbeeren kommt vom Julius Kühn-Institut aus Quedlinburg (ebenfalls Sachsen-Anhalt).
Spitzbergen liegt etwa auf halbem Weg zwischen dem Nordpol und der Nordspitze Norwegens. Diese Lage nützt der Sicherheit des Tresors gleich doppelt: Zum einen ist die Inselgruppe nicht nur eine entmilitarisierte Zone, sondern auch äußerst abgeschieden vom Rest der Welt. Zum anderen gehört sie trotz sehr starker Erwärmung im Zuge der Klimakrise weiterhin zu den kältesten Gegenden der Erde – der Permafrost würde die Samen somit weiter kühlen, sollte die vor einigen Jahren modernisierte Kühlanlage plötzlich ausfallen./trs/DP/he
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