Nov 8, 2022
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Kaukasus: Das zerrissene Land: Georgien muss sich zwischen der EU und Russland entscheiden

Written by Mareike Müller

Tiflis Shota Dighmelashvili nimmt eine Flasche Rotwein aus dem Kühlschrank, die Sorte, die man in Georgien auch kalt trinkt. Vor einem Foto in der Küche macht er halt. Auf dem Bild ist Lekso Lashkarava zu sehen, ein früherer Mitstreiter, der am Rande einer Demonstration getötet worden war.

Die Altbauwohnung, die Dighmelashvili durchschreitet, ist das Büro der pro-europäischen Bewegung „Shame“, englisch für Schande, die gegen den Einfluss russischer Eliten im Land gegründet wurde. Mit dem Motto, „Home to Europe“, heim nach Europa, brachten Dighmelashvili und seine Verbündeten im Juni mehr als 120.000 Menschen auf die Straßen der Hauptstadt Tiflis – jeden zehnten Einwohner. Damals hielt Dighmelashvili euphorische Reden vor der Menge.

Seit Georgien Ende Juni der Beitrittskandidatenstatus für die EU vorerst verwehrt wurde, tritt für viele an die Stelle der Euphorie Ernüchterung. Wie lebt es sich für den großen Teil der Bevölkerung, dem das Ziel einer EU-Mitgliedschaft genommen wurde?

Lange galt das Land mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern als Vorzeigekandidat für einen EU-Beitritt. Noch immer sind als Folge des Georgienkrieges 2008 rund 20 Prozent des Landes von Russland besetzt. Auch deshalb ist der Wunsch, zur EU zu gehören, so groß. Heim nach Europa bedeutet hier auch: weg von Russland.

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Bei den einen macht sich Orientierungslosigkeit breit, bei den anderen Verzweiflung. „Ich bin sehr pessimistisch, was unsere europäische Zukunft betrifft“, sagt etwa Kornely Kakachia, Professor für Politikwissenschaften in Tiflis. Wenn sich die georgische Regierung infolge der jüngsten EU-Entscheidung international weiter isoliere, „wäre Russland die einzige Option, an die man sich wenden könnte“, so seine Sorge.

Demonstrierende bei Pro-Europa-Demonstration in Tbilissi

Im Juni brachte die Bewegung über 120.000 Protestierende auf die Straßen. Doch statt Euphorie herrscht jetzt Ernüchterung.


(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Für die, die sich wie Dighmelashvili aktiv für einen Beitritt und für europäische Werte wie Pressefreiheit oder sexuelle Selbstbestimmung einsetzen, steht vieles auf dem Spiel. Lashkarava beispielsweise, der Kameramann auf dem Foto, wollte 2021 eine Demonstration gegen LGBTQ-Rechte begleiten.

>> Lesen Sie hier: EU-Beitritt: Warum Georgien in die EU will

Teilnehmer attackierten ihn brutal, er verstarb kurz darauf. Die Aktivisten des Shame-Movements riskieren ihre eigene Sicherheit – auch in Opposition zur Regierung und zu den Behörden, denen die Gruppe vorwirft, die Gewalt bei der Demonstration damals noch weiter angeheizt zu haben.

Menschen in Georgien sorgen sich um ihre Sicherheit

Die Regierung stehe nicht nur Minderheitenrechten, sondern auch einer Mitgliedschaft in der EU im Wege – und somit dem Wille des Volkes, sagt Aktivist Dighmelashvili. Laut einer Erhebung der US-Organisation National Democratic Institute vom September befürworten 75 Prozent der Bürger eine EU-Mitgliedschaft.

Büro der Gruppe “Shame”

Shota Dighmelashvili und seine Mitstreiter in ihrem Hauptquartier. (Foto: Mareike Müller)

Als größtes Hindernis dafür nennen sie am häufigsten den fehlenden politischen Willen ihrer Regierung. Nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung gehen davon aus, dass die Regierung die EU-Beitrittskriterien erfüllen wird.

Russlands Krieg gegen die Ukraine wirkt als Katalysator für die Probleme des Landes und könnte den Beitritt in noch weitere Ferne rücken. Denselben Daten zufolge sorgen sich die Georgierinnen und Georgier in erster Linie um ihre Arbeitsplätze, haben Angst vor Armut und steigenden Preisen – während zugleich immer mehr Russen in dem Land ankommen, die sich der Mobilmachung entziehen wollen. Die Geflohenen brauchen Arbeitsplätze und treiben zugleich Mieten und Kaufpreise in die Höhe. Das ist nur der eine, der ökonomische Aspekt.

Viele Bars und Cafés in Georgien erlauben nur noch erklärten Kriegsgegnern den Eintritt, auf Graffitis und Bannern tun Einwohner ihren Unmut über die Neuankömmlinge aus Russland kund. „Putin tötet Menschen in der Ukraine, während Russen in Georgien Chatschapuri essen“, steht auf einem Plakat an einem Balkon. Chatschapuri ist eine georgische Spezialität, ein mit Käse überbackenes Brot.

Nato sieht Georgien als „besonders gefährdetes Partnerland“

Viele Bürger sorgen sich wieder um die Sicherheit im Land. „Vor einem Jahr wären georgische Bürger überhaupt nicht gegen russische Touristen gewesen“, sagt Politikwissenschaftler Kakachia. Doch wegen des jüngsten enormen Zustroms hätten sich die Dinge geändert. Seine Sorge: „Putin könnte eines Tages beschließen, russische Bürger in Batumi zu schützen.“ Die Küstenstadt liegt am Schwarzen Meer und ist ein bei Russen beliebter Badeort.

Erinnerung an Alexander Lashkarava im Büro der Shame-Bewegung

Der georgische Kameramann starb im vergangenen Jahr nach einem Angriff im früheren Gebäude der Gruppe. (Foto: Mareike Müller)

Auf der anderen Seite des Flusses, der Tiflis teilt, sitzt Alexander Vinnikov, Leiter des Nato-Verbindungsbüros in der georgischen Hauptstadt, in seinem klimatisierten Büro, im Rücken eine Karte des Landes. Er blickt auf die Straßen und Städte, die Berge des Kaukasus – und die Grenze zu Russland. Vinnikov kann die Sorgen der Bürger nachvollziehen.

>> Lesen Sie hier: Nichts wie raus aus Russland: Nach Putins Teilmobilmachung fliehen immer mehr junge Russen in die Nachbarländer

Er sehe zwar kein unmittelbares Risiko einer weiteren russischen Militäraggression gegen Georgien. Dennoch bleibe die Bedrohung bestehen, das Verhalten Russlands sei schwierig vorauszusagen. Russische Truppen hielten sich „illegal auf 20 Prozent des georgischen Territoriums auf, darunter einige nur etwa 40 Kilometer von Tiflis entfernt.“ Georgien zähle für die Nato zu den „besonders gefährdeten Partnerländern“. Nun gelte es, die Widerstandsfähigkeit des Landes „gegenüber hybriden Bedrohungen“ zu stärken.

Auch durch die starke Solidarität mit der Ukraine ist die Sorge vor einer erneuten Aggression Russlands im Kaukasus allgegenwärtig. Vor dem Parlamentsgebäude, an der wichtigsten Straße der Stadt gelegen, hat David Usupashvili sein Büro. Wer zu ihm will, muss an einer Reihe von Gedenktafeln und Fotos von jenen aus Georgien und anderen Ländern vorbei, die auf der ukrainischen Seite gegen Russland kämpften.

Eingang eines Cafés in Tbilissi

Immer häufiger weisen Bars und Cafés darauf hin, dass sie keine Gäste wünschen, die Sympathie für Putin hegen. (Foto: Mareike Müller)

„Was auch immer die Regierung heutzutage tut, ähnelt dem, was man aus Moskau hört“, sorgt sich der Oppositionspolitiker, der Vorsitzender der Partei Lelo ist. Außerdem hätte er „noch nie eine Regierung erlebt, die so unhöflich gegenüber EU-Diplomaten auftritt“. Weg von der EU, hin zu Russland, so zeigt sich die Regierung aus seiner Sicht.

Gedenkstätte am Parlament

Blumen, Flaggen und Fotos erinnern hier unter anderem an Georgier, die auf Seiten der Ukraine gegen Russland kämpften. (Foto: Mareike Müller)

Auch Experten zufolge sucht die georgische Regierung eher die Nähe zu Russland. Politikwissenschaftler Kakachia beispielsweise analysiert die Spaltung so: „Das große Problem ist, dass diese Regierung stark mit oligarchischen Interessen verbunden ist.“ Ihre Vertreterinnen und Vertreter hätten „wirklich Angst“, die nächste Wahl 2024 zu verlieren. „In Georgien gibt es eine Tradition politischer Rachefeldzüge. Wahlen zu verlieren könnte eine Bedrohung für das politische – und sogar physische – Überleben bedeuten“, erklärt Kakachia.

Dabei hatten die Reformen unter Ex-Präsident Micheil Saakaschwili viele in der Bevölkerung einst hoffen lassen: auf ein Ende der Korruption, eine bessere Menschenrechtslage. Bis Saakaschwili sich immer unbeliebter machte, ins Exil ging und nach seiner Rückkehr im Gefängnis landete. Gegenüber der jetzigen Regierung herrscht großes Misstrauen.

Nun liegt große Hoffnung auf den Wahlen, die 2024 anstehen. „Es gibt gar keinen Zweifel. Wir werden eine pro-europäische Regierung haben“, sagt Oppositionspolitiker Usupashvili, „2024 oder schon früher“. Dass es vorgezogene Wahlen geben könnte, die den Prozess beschleunigen, darauf hoffen hier viele.

„Wenn es der Opposition gelingt, sich zu vereinen, wird sie die Menschen auch überreden zu folgen“, glaubt Aktivist Dighmelashvili. Allerdings sei die Opposition zu fragmentiert, um derzeit als ernsthafte Alternative angesehen zu werden, fügt er hinzu. „Sie wird schwächer und schwächer.“

Seine einzige Hoffnung: „Wenn wir als Zivilgesellschaft laut genug rufen – vielleicht hört uns die EU ja dann.“

Mehr: Ukraine: Warum es bei der Wiederaufbau-Konferenz um mehr als nur Geld geht.



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