Europas größtes Atomkraftwerk, das seit Kriegsbeginn von Russland kontrolliert wird, liegt rund 150 Kilometer nordöstlich der beschädigten Talsperre am Südufer des Stausees.
(Foto: AFP/Getty Images)
Berlin Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine verschärft die ohne prekäre Lage des nahe gelegenen Atomkraftwerks Saporischschja. Davor warnte die Internationale Atomenergiebehörde IAEO. Schon vor dem Dammbruch war die Situation „extrem fragil und gefährlich“, wie die Organisation Ende Mai erklärte.
Durch den Dammbruch selbst bestehe zwar „derzeit keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit“ des Kraftwerks, teilte IAEO-Generaldirektor Rafael Grossi mit. So ist eine Überflutung nicht zu befürchten, da das Kraftwerk am Flusslauf oberhalb des Staudamms liegt und das Wasser über den Fluss Dnipro in Richtung Südwesten ins Schwarze Meer fließt. Es müsse aber dauerhaft die Versorgung mit Kühlwasser gesichert werden. Bislang kommt dies aus dem Stausee, dessen Wasserspiegel nun unaufhaltsam sinkt.
Der Pegel betrug nach IAEO-Angaben Dienstag früh um acht Uhr noch 16,40 Meter, sinkt aber stündlich um rund fünf Zentimeter – das sind 1,20 Meter pro Tag. Sobald ein Niveau von 12,70 Metern unterschritten sei, könne kein Wasser mehr in Richtung Kernkraftwerk gepumpt werden.
Allerdings sei der direkt am Kraftwerk gelegene Wassertank, der aus dem Stausee gespeist wird, sehr groß und dürfte im Zweifel die Kühlung für mehrere Monate gewährleisten, sagte Grossi. Dafür sei es aber unerlässlich, dass dieser Tank auf jeden Fall intakt bleibe. „Es darf nichts geschehen, was seine Unversehrtheit potenziell gefährden könnte“, appellierte er an Kiew und Moskau.
Bereits sieben Mal musste das AKW mit Dieselgeneratoren betrieben werden
Europas größtes Atomkraftwerk, das seit Kriegsbeginn von Russland kontrolliert wird, liegt rund 150 Kilometer nordöstlich der beschädigten Talsperre am Südufer des Stausees. Die IAEO hat ebenso wie die westliche Staatengemeinschaft vielfach darauf gedrängt, die Kampfhandlungen um das AKW zu beenden, um keine Beschädigung und keinen radioaktiven Fallout zu riskieren.
Im vergangenen September wurde auch der letzte der insgesamt sechs Reaktoren der Anlage abgeschaltet. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie keine Gefahr mehr darstellen. Denn auch abgeschaltete Reaktoren müssen im „Nachbetrieb“ mehrere Jahre gekühlt werden. Nur so kann eine Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität verhindert werden, wie sie etwa im japanischen Atomkraftwerk Fukushima zur Katastrophe führte.
Der ukrainische Atomkonzern Enerhoatom sah den Betrieb des Atomkraftwerks durch die Zerstörung des Staudamms ebenfalls akut nicht gefährdet. „Wir schätzen die Lage nicht als kritisch ein, da das AKW Saporischschja über ein eigenes Kühlbecken verfügt, das nicht mit dem Kachowka-Stausee verbunden ist“, sagte Enerhoatom-Leiter Petro Kotin in einem Fernsehinterview.
Das Kühlwasser wird nicht nur für den Reaktor selbst benötigt, sondern immer wieder auch für die Kühlung der Dieselgeneratoren für den Notfall. Aktuell ist unklar, ob die Stromversorgung des AKW noch intakt oder durch die Beschädigung des Stausee-Wasserkraftwerks unterbrochen ist. Dazu machen weder die IAEO noch deutsche Behörden Angaben.
Weil die externe Stromversorgung aber schon zuvor immer wieder ausgefallen war, musste das Kraftwerk und damit seine Kühlung nach IAEO-Angaben schon sieben Mal mit Not-Dieselgeneratoren betrieben werden. Diese stellen dann regelmäßig „die letzte Verteidigungslinie gegen einen Nuklearunfall dar“, sagte Grossi – letztmals in der zweiten Maihälfte.
Staudammbruch: Scholz spricht von „neuer Dimension“ im Krieg
„Wir haben Glück, dass sich bis jetzt kein Nuklearunfall ereignet hat“, sagte Grossi noch vor einer Woche – nicht ahnend, wie sehr sich die Lage nun verschärfen würde. „Das ist ein Würfelspiel, und wenn es so weitergeht, wird uns das Glück eines Tages verlassen.“
Seine für kommende Woche geplante Inspektionsreise in das Kernkraftwerk will Grossi nun erst recht antreten, kündigte er an. Schon seit September sind eine Handvoll seiner Experten permanent als neutrale technische Beobachter in Saporischschja stationiert.
Mehr: Seit Kriegsausbruch herrscht Angst vor einer Nuklearkatastrophe in Saporischschja
<< Den vollständigen Artikel: Saporischschja: Zerstörter Staudamm wird zur Gefahr für Europas größtes Atomkraftwerk >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.