Berlin Dennis Radtke ist bekannt für klare Worte: „Wir haben einen sozialdemokratischen Bundeskanzler, aber die größten Verlierer unter dieser Bundesregierung sind die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, weil die Krisenhilfen nicht zielgenau waren“, kritisiert der CDU-Europaparlamentarier und Vizevorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).
Deshalb müsse sich seine Partei in der Sozialpolitik stärker zu Wort melden. „Das hat nichts mit links oder rechts zu tun, sondern mit den realen Problemen der Menschen“, sagt Radtke. Die Reallöhne sind im vergangenen Jahr das dritte Jahr in Folge gesunken. Die Bürger fürchten, durch die Energiewende finanziell überfordert zu werden. Und die AfD hat erst so richtig zu ihrem jüngsten Höhenflug in den Umfragen angesetzt, als die hohe Inflation in den Portemonnaies der Menschen ankam.
Doch der Union, die bei der nächsten Wahl gerne den sozialdemokratischen Bundeskanzler wieder ablösen würde, trauen die Wähler die Lösung solcher Fragen offenbar nicht zu. Egal ob in der Sozialpolitik, in der Frage der sozialen Gerechtigkeit oder der Sicherung der Renten – überall wird der SPD in Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen größere Kompetenz zugesprochen als der CDU/CSU.
Dabei böte gerade die Sozialpolitik Profilierungsmöglichkeiten. Denn die AfD hat auf drängende Fragen meist nur populistische Antworten und driftet immer weiter nach rechts ab. Und die Linke, die in der Opposition bisher für das Soziale stand, zerlegt sich selbst.
Doch bisher nutzten die Konservativen ihre Chance kaum, sagt der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder: „Die CDU greift als größte Oppositionspartei die Regierung situativ auch in der Sozialpolitik an, aber es ist auf diesem Feld bisher keine Strategie und kein klares Konzept erkennbar.“
Beispiele für situative Reaktionen gibt es viele. Die Mindestlohnkommission habe „ausgedient“, giftete CDA-Chef Karl-Josef Laumann nach der jüngsten Anpassungsentscheidung des Gremiums, die aus seiner Sicht viel zu gering ausfiel.
CDU will wirtschaftsfreundlicher werden
Der kommissarische CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte spürbare Entlastungen für Normalverdiener. Und am Donnerstag veröffentlichte die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein Positionspapier, in dem sie sich dafür stark macht, dass Paketboten künftig nicht mehr so schwer schleppen sollen. Eine Antwort auf einen entsprechenden Vorstoß von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil.
Doch eigentlich will die CDU nach 16 Jahren quasi sozialdemokratischer Politik unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel wieder einen stärker wirtschaftsfreundlichen Kurs fahren. Dafür stehen der Parteichef und frühere Blackrock-Manager Friedrich Merz und der neue Generalsekretär Linnemann, der lange Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) war.
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Mit dessen Vorgänger als Generalsekretär, dem früheren Berliner Sozialsenator Mario Czaja, hatte Merz noch versucht, den Arbeitnehmerflügel besser einzubinden. „Aber die Reißbrettfigur Czaja hat in der Realität nicht funktioniert“, sagt Politikwissenschaftler Schroeder.
Nun ist es an Linnemann, auch das soziale Profil der Partei zu schärfen. Derzeit sammelt er die Ideen für das neue Grundsatzprogramm ein – etwa den Vorschlag, neben der Gesetzlichen Rente eine zweite verpflichtende Rentensäule aufzubauen. Die Finanzierung der Sozialsysteme sei „eine der drängendsten Fragen unserer Zeit“, sagt Linnemann. „Im Grundsatzprogrammprozess beschäftigen wir uns intensiv damit.“
Gemeinsames Verständnis von Solidarität und Subsidiarität
Die CDU lässt sich dabei von zwei Grundgedanken leiten: Was verteilt werden soll, muss erst erwirtschaftet werden. Und die Eigenverantwortung des Einzelnen muss gestärkt werden. „Die beste Sozialpolitik ist immer noch eine gute Wirtschafts- und Finanzpolitik“, sagt der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unionsfraktion, Axel Knoerig.
Menschen, die Sozialleistungen erhielten und arbeiten könnten, müssten dies auch tun, betont Linnemann. „Das erwarten die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen und mit ihren Steuern und Abgaben den Sozialstaat überhaupt erst möglich machen.“ Aber selbstverständlich müssten diejenigen, die nicht arbeiten könnten, unterstützt werden.
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Aus dem Sozialflügel heißt es aber, der CDU fehle vielfach das Gespür, was die Menschen wirklich wollten. Die Forderung des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn, die Rente ab 63 abzuschaffen, kam in den Ortsvereinen nicht bei allen gut an, heißt es.
Genau wie der Auftritt der stellvertretenden Vorsitzenden des Parlamentskreises Mittelstand, Jana Schimke, die den Bürgern kürzlich im ZDF-Morgenmagazin erklärte, sie müssten alle länger arbeiten.
Europaparlamentarier Radtke führt das zuweilen fehlende Einfühlungsvermögen auch darauf zurück, dass die Repräsentanz der CDA in den zurückliegenden 20 Jahren immer mehr abgenommen habe. Deren Chef Laumann sei der einzige CDA-Vertreter in der engeren Parteiführung. „Und wenn 80 Prozent der Fraktion in der Mittelstandsunion sind und nur ein CDA-Vertreter im Präsidium sitzt, dann stimmt die Balance nicht“, kritisiert Radtke.
Politikwissenschaftler Schroeder sieht das ähnlich. Der Arbeitnehmerflügel sei wichtig für die Symmetrie in der Volkspartei CDU, wenn diese künftig wieder Wahlen gewinnen wolle. „Gerade in Zeiten einer verstärkten Austeritätspolitik muss er glaubhaft für den sozialen Ausgleich stehen.“
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