Brüssel Christian Lindner hat nichts unversucht gelassen, auch einen Beitrag für die „Financial Times” hat er am Dienstag noch veröffentlicht. Doch die Bemühungen des Bundesfinanzministers, der EU-Kommission bei der Reform des Euro-Stabilitätspakts feste Ziele für den Schuldenabbau abzuringen, sind gescheitert.
Wenn die Brüsseler Behörde an diesem Mittwoch ihren Gesetzesvorschlag präsentiert, bleibt das zentrale Anliegen der Bundesregierung unberücksichtigt. Das zeigt ein Entwurf, der dem Handelsblatt vorliegt. Die Schuldenregeln würden „einfacher, transparenter und effektiver”, verspricht die Kommission – und damit einfacher durchsetzbar.
„Der reformierte Rechtsrahmen sollte dazu beitragen, die grüne, digitale und widerstandsfähige Wirtschaft der Zukunft aufzubauen und gleichzeitig die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten”, heißt es in dem Dokument.
Der Stabilitätspakt schreibt vor, dass Euro-Mitglieder ihre Haushaltsdefizite auf drei Prozent und ihre Staatsverschuldung auf 60 Prozent ihrer Wirtschaftskraft begrenzen müssen.
An diesen Werten wird nicht gerüttelt, obwohl die Schulden in der Euro-Zone im Schnitt bei mehr als 90 Prozent liegen. Die Reform soll die Regierungen vielmehr dazu bringen, die Schulden- und Defizitgrenze schrittweise wieder einzuhalten.
Lindner hatte gefordert, dass hochverschuldete Euro-Länder ihren Schuldenstand um mindestens einen Prozentpunkt pro Jahr reduzieren müssen. Staaten mit mittlerem Schuldenstand wollte er auf eine jährliche Konsolidierung von mindestens 0,5 Prozentpunkten verpflichten. Die Kommission dagegen setzt auf Tilgungsziele, die sie individuell mit den Ländern vereinbaren will.
Warum lehnt die Kommission starre Regeln ab?
Die Kommission hat schlechte Erfahrungen mit festen Abbauzielen gesammelt. Bisher galt die Vorschrift, dass Regierungen ihren Schuldenstand innerhalb von 20 Jahren auf 60 Prozent der Wirtschaftskraft drücken müssen.
Im Falle von Italien und Griechenland hätte dies eine so starke Kombination von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen erfordert, dass die Wirtschaft kollabiert und der Schuldenstand gemessen am BIP wahrscheinlich sogar gestiegen wäre. Daher wurde die sogenannte Ein-Zwanzigstel-Regel nie angewendet.
Bei der Reform soll es aus Sicht der Kommission vor allem darum gehen, realitätstaugliche Schuldenvereinbarungen zu erzielen. Die Behörde will in enger Absprache mit den Regierungen festlegen, welche Ausgaben gekürzt und welche Steuern erhöht werden können.
Mehr Eigenverantwortung für den Schuldenabbau – das ist das Ziel. Dafür greift die Kommission auf das Instrument der Schuldentragfähigkeitsanalyse zurück, das auch der Internationale Währungsfonds (IWF) verwendet.
Dabei errechnen Ökonomen, wie sich der Schuldenstand in Zukunft entwickelt – unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Umfelds: Zinsen, Inflation und Wachstum. Im Abschwung müsste dann weniger stark gespart werden, um die Krise nicht zu verschärfen. Das wäre bei Lindners Ein-Prozent-Plan nicht der Fall.
Die befürchtete „prozyklische” Wirkung ist Hauptgrund dafür, weshalb Brüssel das deutsche Konzept ablehnt. Rückendeckung erhält die Kommission aus Washington. Gita Gopinath, Vizedirektorin des IWF, sagt: „Wenn die Schulden jedes Jahr um ein Prozent gesenkt werden und sich das wirtschaftliche Umfeld eintrüben sollte, ist das eine schlechte Kombination. Mitten in einem Abschwung die Schulden in diesem Ausmaß zu reduzieren, würde den Abschwung verstärken.”
Die Kommission greift auf das Instrument der Schuldentragfähigkeitsanalyse zurück, das auch der Internationale Währungsfonds (IWF) verwendet.
Auch der deutsche Ökonom Armin Steinbach, bis 2021 Referatsleiter im Bundesfinanzministerium, hält die Schuldentragfähigkeitsanalyse für das bessere Modell. Die Berechnungen seien zwar stark von den Annahmen über die Entwicklung von Zinsen und Inflation abhängig.
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„Der IWF zeigt aber, wie man mit diesen Unwägbarkeiten zurechtkommen kann”, erläutert Steinbach, der inzwischen an der Pariser Universität HEC lehrt. Wichtig sei, dass sich die Kommission verpflichtet, „Rechenschaft über die von ihr gesetzten Parameter abzulegen”.
Was befürchtet Deutschland?
Lindner sieht das Risiko, dass die Stabilitätsziele weiter an Bedeutung verlieren. „Statt bilateraler Verfahren und Verhandlungen brauchen wir ein funktionierendes System von Fiskalregeln, das zu einer Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten führt”, schreibt der FDP-Politiker in der „Financial Times“. Tatsächlich hat Brüssel bisher stets Milde walten lassen. Nicht nur in Deutschland gibt es daher erhebliche Vorbehalte gegen einen Machtzuwachs der Kommission.
Statt bilateraler Verfahren und Verhandlungen brauchen wir ein funktionierendes System von Fiskalregeln, das zu einer Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten führt. Christian Lindner in der Financial Times
Lindner fürchtet, dass die Schuldentragfähigkeitsanalyse viel Spielraum bietet, um die finanzielle Situation der Mitgliedstaaten schönzurechnen. Konkret: Je niedriger das Zinsniveau veranschlagt wird und je stärker die Wachstumsprognose ausfällt, desto laxer können die Sparziele sein.
Zudem stört sich Berlin daran, dass die Kommission den hochverschuldeten Ländern viel Zeit für den Schuldenabbau einräumen will. Binnen vier Jahren müssen sie ihre Haushaltspolitik so anpassen, dass die Schuldenquote auf einem nachhaltig sinkenden Pfad ist. Der Zeitraum kann auf sieben Jahre verlängert werden.
Welche Zugeständnisse macht Brüssel?
Die Kommission will Lindner nicht völlig auflaufen lassen. Schutzklauseln sollen sicherstellen, dass die Schuldenquoten im Rahmen der vereinbarten Abbaupläne auch tatsächlich sinken. Wenn ein Land die gemachten Zusagen bricht, sind standardmäßig Strafen vorgesehen, auf die nur in Ausnahmesituationen verzichtet werden soll, wie etwa in einer schweren Bankenkrise.
Auch müssen Länder mit einem Haushaltsdefizit von mehr als drei Prozent ihr Defizit um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr verringern. Zudem dürfen die Staatsausgaben nicht schneller zunehmen, als die Wirtschaft realistischerweise wachsen kann. In Berlin zeigt man sich zufrieden mit diesem Entgegenkommen.
Allerdings will die Kommission die Strafzahlungen absenken, die bei einem Defizitverfahren drohen. Die Gründe erläuterte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis zuletzt im Handelsblatt: Die ursprüngliche Idee sei es gewesen, „so harte Strafen anzudrohen, dass die Regierung sie nicht riskieren würden”.
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In der Praxis habe sich aber herausgestellt, dass die Abschreckung genau andersherum wirkte: Die Strafen waren so hart, dass sie de facto nicht verhängt werden konnten, ohne die betroffenen Länder „finanziell noch weiter zu destabilisieren”.
Was passiert, wenn es keine Einigung gibt?
Der Entwurf der Kommission muss nun von den 27 Finanzministern beschlossen werden. Viel Zeit bleibt nicht: Der Stabipakt war zu Beginn der Coronapandemie ausgesetzt worden, soll aber zum Jahresende wieder in Kraft treten. Einigen sich die Finanzminister bis dahin nicht auf eine Reform, würden die alten Regeln wieder gelten. Ähnlich wie vor der Pandemie würden sie wohl nicht durchgesetzt.
Mehr: Reform der Schuldenregeln – EU-Kommission lässt Lindner abblitzen
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