Brüssel Die geplante Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts bringt deutliche Erleichterungen für hochverschuldete Länder. Sie müssten weniger sparen als unter den bisher geltenden Schuldenregeln. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Brüsseler Thinktanks Bruegel.
Die Ökonomen haben die von der EU-Kommission vorgeschlagene „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ auf alle Länder angewandt, die gegen eines der beiden Maastricht-Kriterien verstoßen (maximal 60 Prozent Staatsverschuldung, maximal drei Prozent Staatsdefizit).
Das Ergebnis ist auf den ersten Blick paradox: Die Länder mit einem Schuldenstand von mehr als hundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts können es künftig mit der Konsolidierung langsamer angehen lassen. Bei fast allen anderen Ländern hingegen steigt der Spardruck im Vergleich zu den alten Regeln.
Die 27 EU-Finanzminister wollen die Reform des Stabilitätspaktes bis zum Jahresende beschließen. Grundlage der Gespräche ist ein Gesetzesentwurf der EU-Kommission vom April. Darin schlägt die Behörde vor, künftig mit jeder Regierung einen maßgeschneiderten Schuldenabbauplan für vier Jahre zu vereinbaren. Dieser soll durch die „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ bestimmt werden.
Sechs Länder sind hoch verschuldet
Sechs Länder werden laut Kommissionsprognose auch im kommenden Jahr Schuldenquoten von mehr als 100 Prozent haben: Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien, Belgien und Portugal. Bis auf Portugal müssten alle unter den neuen Regeln weniger sparen als unter den alten.
Am deutlichsten ist der Unterschied bei Italien (Schuldenquote: 140 Prozent). Während unter den alten Regeln die Schuldenquote um vier Prozentpunkte pro Jahr sinken müsste, reicht unter den neuen Regeln eine Konsolidierung von 0,1 Prozent.
Der Grund: Bislang galt – zumindest auf dem Papier – die Ein-Zwanzigstel-Regel. Demnach musste eine Regierung jedes Jahr mindestens ein Zwanzigstel ihrer Überschuldung, also dem Teil der Schulden über der 60-Prozent-Grenze, abbauen. Diese Regel soll künftig wegfallen. Stattdessen soll jedes Land seine Schulden binnen vier Jahren auf einen absteigenden Pfad bringen, so dass sie langfristig tragfähig sind.
Deutsche Schuldenquote muss auch sinken
Italien etwa muss zunächst sein Defizit unter die vorgeschriebenen drei Prozent drücken. In dieser Phase steigen die Schulden in der Regel weiter an. Deshalb fällt der Schuldenabbau in dem Anpassungszeitraum von vier Jahren mit 0,1 Prozent pro Jahr zunächst relativ gering aus. Danach, sobald das Defizit unter Kontrolle ist, soll sich der Schuldenabbau aber auf 2,4 Prozent pro Jahr beschleunigen.
Umgekehrt führt die neue Methode dazu, dass ein Land wie Deutschland, das eine relativ geringe Schuldenquote von 64 Prozent hat, nach der Reform mehr sparen müsste als vorher. Die deutsche Schuldenquote müsste um ein Prozent pro Jahr sinken – statt um 0,2 Prozent.
Allerdings hinkt der Vergleich mit dem alten Stabilitätspakt, denn die Ein-Zwanzigstel-Regel wurde in der Praxis nie befolgt, weil sie zu drastisch war. Die Regel habe zu „absurden Anforderungen“ geführt, sagt Bruegel-Direktor Jeromin Zettelmeyer.
Überfällige Reform
Er hält die Reform daher für überfällig. Von einer Aufweichung des Stabilitätspaktes könne keine Rede sein. Es gehe vielmehr darum, realistische Regeln aufzustellen, um Schulden langfristig unter Kontrolle zu bringen.
„Die Regierungen sparen nach wie vor viel“, sagt er. „Sie müssen aber nicht mehr sparen als nötig.“ Dank der neuen „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ werde besser ausgerechnet, wann Länder sparen müssen.
Laut der Bruegel-Studie führt die neue Methode dazu, dass die Schuldenquoten in dem Vier-Jahres-Zeitraum im Schnitt um 0,6 Prozentpunkte weniger sinken, als es unter den alten Regeln der Fall wäre. Allerdings müssen neun hochverschuldete Länder immer noch mehr als zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts einsparen. „Das sind ehrgeizige Ziele“, betont Zettelmeyer.
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Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will verhindern, dass die Regeln künftig zu lax sind. Auf seinen Druck hat die Kommission die folgenden vier „Safeguards“ in den Gesetzesentwurf aufgenommen:
- Die Schuldenquote muss am Ende der vier Jahre niedriger sein als zu Beginn.
- Die Staatsausgaben sollen in den vier Jahren langsamer wachsen als die Wirtschaft insgesamt.
- Der Schuldenabbau muss über die vier Jahre verteilt werden und darf nicht bis zum Ende aufgeschoben werden (kein „Back-Loading“).
- Das Defizit muss um mindestens 0,5 Prozentpunkte pro Jahr reduziert werden, solange es über der Maastricht-Obergrenze von drei Prozent liegt.
Die starren Vorschriften sind umstritten, weil sie der Grundidee widersprechen, länderspezifische Abbaupfade zu definieren. Für Frankreich etwa bedeutet die erste Vorgabe zur Schuldenquote einen besonders hohen Spardruck von 4,6 Prozent in den ersten vier Jahren. „Das ist völlig aussichtslos“, meint Zettelmeyer.
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Die „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ zeige, dass Frankreich langfristig relativ niedrige Zinsen, hohes Wachstum und eine günstige demographische Entwicklung habe. Deshalb sei es nicht sinnvoll, kurzfristig diesen willkürlichen Spardruck aufzubauen. Er plädiert deshalb dafür, die „kontraproduktive“ Regel zu streichen.
Das Hauptziel der Reform müsse es sein, nachvollziehbare Vorgaben zum Schuldenabbau zu machen. Denn die Kommission habe laut den EU-Verträgen keine Handhabe, die Befolgung der Regeln zu erzwingen. Für den Ökonomen ergibt sich daraus: „Wenn man keine Strafkeule hat, muss man das System so reformieren, dass die Mitgliedstaaten freiwillig mitmachen.“
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